Die Bundesregierung arbeitet am Rentenpaket II. Wir sprachen mit dem Bochumer Sozialwissenschaftler Martin Werding, der auch als einer der „fünf Wirtschaftsweisen“ die Bundesregierung berät, über die größten Baustellen.
Herr Prof. Werding, wo sehen Sie am meisten Reformbedarf?
Im ersten Schritt bräuchten wir dringend eine Regelung zur ergänzenden Kapitaldeckung. Das von der Bundesregierung geplante Generationenkapital hilft hier nicht weiter. Stattdessen würde ich mir eine Ersatz-Regelung für Riester wünschen. Das wäre am schnellsten umsetzbar und die Zeit drängt. Zudem sollten wir uns rechtzeitig um das Thema Altersgrenze kümmern. Ohne eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit wird es bei der Sicherung der Rente langfristig nicht gehen.
Die Regelarbeitszeit wird künftig über die Grenze von 67 steigen müssen?
Ich sehe keine Möglichkeit, wie wir um eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit herumkommen, weil die Lebenserwartung steigt. Eine systemgerechte Anpassung kann ja nur sein, Renteneintritt und Erwerbsphase entsprechend zu verschieben – und die relative Länge der Ruhephase so konstant zu halten.
Besonders umstritten ist die Rente ab 63. Doch das Angebot ist deutlich beliebter als gedacht und kostet die Rentenkassen viel Geld. Muss die Rente ab 63 wieder weg?
Die reine Lehre würde sagen: Ja, die Rente mit 63 muss so schnell wie möglich weg. Denn wir verlieren – anders als in der öffentlichen Debatte häufig behauptet – vor allem sehr gut qualifizierte Fachkräfte mit überdurchschnittlicher Gesundheit. Das verschärft den ohnehin bestehenden Arbeitskräftemangel weiter und belastet die Rentenkasse mit bis zu 14 Milliarden Euro pro Jahr. Wenn wir – etwa mit Blick auf Menschen mit kräftezehrenden Berufen – trotzdem an der Regelung festhalten wollen, müssen wir zumindest nachsteuern.
Wie?
Im Grunde gäbe es da eine einfache Stellschraube: Wir erlauben die Rente ab 63 künftig nur noch langjährigen Geringverdienern. Das sind meistens Menschen, die körperlich sehr anspruchsvolle Tätigkeiten ausgeübt haben, häufig auch weniger gesund sind und eine geringere Lebenserwartung haben. Da wäre ein früherer Renteneintritt eine Frage der fairen Behandlung.
Die Rente ist zum 1. Juli um 4,39 Prozent im Westen und 5,86 Prozent im Osten gestiegen. Die Anpassung hängt an der Lohnentwicklung. Bei Löhnen und Gehältern zeigt der Trend 2023 nach oben. Was bedeutet für das kommende Jahr?
Nach Lage der Dinge dürften die Renten auch im nächsten Jahr deutlich steigen. Denn im laufenden Jahr sind Löhne und Gehälter zum Teil spürbar gestiegen, nicht zuletzt wegen der hohen Inflation. Das wird sich im nächsten Jahr auch in der Rentenanpassung niederschlagen.
Die Länder stehen angesichts der bevorstehenden Ruhestandswelle auch bei Beamten vor gewaltigen Herausforderungen. Alleine 2021 haben die Länder laut Stiftung Marktwirtschaft 43 Milliarden Euro für die Versorgung ihrer Pensionäre aufgewandt. Wie gefährlich ist das für die Länderhaushalte?
Die Studie zeigt große Unterschiede, sowohl was die Lasten und die mögliche Vorsorge anbelangt als auch die Anzahl der Verbeamtungen. Aber vor allem einige westdeutsche Bundesländer könnten künftig unter Druck geraten, weil ein immer größerer Anteil des Haushalts für die Personalausgaben für Beschäftigte und die Pensionszahlungen für Beamte anfällt. Das würde die finanziellen Spielräume der Länder weiter einschränken.
Angesichts der Lasten kritisieren viele Ökonomen die großzügige Verbeamtungspraxis, vor allem bei Lehrern. Müssen die Länder da einen rigideren Kurs fahren?
Absolut. Um das Problem zu entschärfen, brauchen wir zunächst geänderte Rahmenbedingungen. Die Länder müssten sich darauf verpflichten, für Pensionslasten finanziell vorzusorgen, etwa, indem sie Rücklagen für neue Beamte bilden. Das Musterland in dieser Hinsicht ist Sachsen. Doch der stärkste Hebel, um die latente Sprengkraft langfristig aus den Länderhaushalten zu nehmen, ist die Verbeamtungspraxis. Die zentrale Frage dabei ist: Welche staatlichen Funktionen müssen von Beamten wahrgenommen werden? Für die Polizei herrscht da sicher Konsens. Aber bei anderen Berufen wie Lehrern geht es auch ohne.
Das Problem ist, dass Lehrer derzeit bundesweit knapp sind.
Wir sehen gegenwärtig einen regelrechten Konkurrenzkampf der Bundesländer um angehende Lehrer. Um attraktiver für mögliche Bewerber zu sein, locken die Kultusminister mit Beamtenstellen. Wenn wir die künftige Lage verbessern wollen, müssten sich die Länder auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen und die Verbeamtung für Lehrer zügig einstellen. Hilfreich könnte auch, dass die Länder aufgelaufene Versorgungsansprüche gesondert ausweisen oder Abgaben an einen Pensionsfonds abführen.
Müsste man das nicht verpflichtend machen?
Unbedingt. Der Vorteil einer Verbeamtung liegt mit Blick auf die Personalkosten derzeit ja gerade darin, dass die Länder bei Beamten keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen. Wenn sie dann auch keine Rückstellungen bilden, ist das erst mal günstiger, aber eine Last-Verschiebung in die Zukunft.
Interview: Thomas Schmidtutz