G20-Gipfel: Russland kann sich freuen

von Redaktion

VON M. FISCHER, U. MAUDER J. NAUE UND A. HAASE

Neu Delhi – Es gehört zu den Ritualen internationaler Gipfel, dass die Ergebnisse von den Teilnehmern am Ende als Erfolg verkauft werden – mögen sie noch so dünn sein. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beherrscht diese Disziplin besonders gut. In seiner kurzen Pressekonferenz zusammen mit Finanzminister Christian Lindner (FDP) auf dem G20-Gipfel in Neu Delhi sagt er am Samstagabend zehnmal „erfolgreich“ oder „Erfolg“. Als wenn er ihn herbeireden wollte.

Kurz zuvor hat die Staatengruppe der führenden Wirtschaftsmächte etwas erreicht, das viele zwischenzeitlich schon fast abgeschrieben hatten: eine Gipfelerklärung aller 20 Mitglieder. Darunter die USA, Deutschland, Japan und Frankreich. Aber eben auch China und Russland, deren höchste Vertreter abwesend waren. Dass die Verhandlungen über das Abschlussdokument in die Nähe des Scheiterns gerieten, liegt an einer einzigen Frage: Mit welchen Worten beschreibt man das, was seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine passiert. Ob man Krieg „in“ der Ukraine oder „gegen“ die Ukraine sagt, ist dabei schon von höchster Brisanz.

Mit solchen Feinheiten haben sich die Unterhändler der Staats- und Regierungschefs – die sogenannten Sherpas – schon Wochen vor dem Gipfel befasst, und in der heißen Phase in Neu Delhi Tag und Nacht. Beim letzten Gipfel auf der indonesischen Insel Bali wurde der russische Angriffskrieg noch in der Erklärung von „den meisten“ Staaten klar verurteilt. Und Russland stimmte auf Druck Chinas zu, der für den daheimgebliebenen Kremlchef Wladimir Putin verhandelnde Außenminister Sergej Lawrow reiste bereits am ersten Gipfeltag vorzeitig ab.

Diesmal wollten China und Russland sich diese Blöße nicht geben. Das Ergebnis ist ein Formelkompromiss – also eine Einigung, bei der der eigentliche Konflikt ungelöst bleibt und jeder behaupten kann, sich durchgesetzt zu haben. Es wird nur noch auf Resolutionen der Vereinten Nationen zur Verurteilung des Angriffskriegs verwiesen.

Jeder hat also seine eigene Lesart – und kann sie als Erfolg verkaufen. Für den russischen Außenminister Lawrow, der auch in Indien wieder Putin vertritt, gibt es keinen Grund mehr, den Gipfel vorzeitig zu verlassen. Am Sonntagmorgen steht er zusammen mit den Staats- und Regierungschefs an dem Ort, an dem der indischen Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi 1948 kurz nach seiner Ermordung eingeäschert wurde, und legt einen Kranz nieder. Die Bilder von der Gedenkzeremonie sind der inoffizielle Ersatz für das traditionelle Familienfoto, das es seit dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht mehr gibt. Da hilft es auch nichts, dass die westlichen Staats- und Regierungschefs Lawrow beim Gipfel weitgehend schneiden. Scholz sagt offen, dass er ihm weder die Hand gegeben noch mit ihm geredet habe.

Stellt sich die Frage, warum der Westen der Delhi-Erklärung zugestimmt hat. Als ein Grund gelten die Bemühungen, Russland zu einer Rückkehr in das Abkommen für den Transport von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer zu drängen.

Gerade für Deutschland und die EU geht es derzeit geopolitisch um viel. Die Europäer wissen, dass sie im Kampf gegen den Klimawandel oder bei der Rohstoffversorgung auf Länder wie China, Indien und Brasilien angewiesen sind. Ganz zu schweigen von der Bedeutung, die diese Länder als Absatzmärkte für die heimische Exportwirtschaft spielen.

Am Ende hat sich die G20-Gruppe in Neu Delhi mit dem Arrangement mit Russland gerade noch einmal über die Runden gerettet. Verliererin ist die von Russland angegriffene Ukraine. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wurde diesmal nicht per Video zugeschaltet. Anders als 2022, wo Selenskyj auf Bali eine große Bühne geboten wurde.

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