Straßburg – Ist sie unentschlossen oder diskret? Will sie bis 2029 Chefin der EU-Kommission bleiben – oder doch vielleicht noch erste Frau an der Spitze der Nato werden? Ursula von der Leyen lässt sich nicht in die Karten schauen. Bei ihrer jährlichen Rede zur Lage der Union im Europäischen Parlament wurde gestern mit Spannung erwartet, ob sie Andeutungen zu einer weiteren Amtszeit macht. Es war die letzte Rede zur Lage der EU vor der Europawahl im Juni 2024.
Doch die Kandidatin weicht aus. Etwas mehr als eine Stunde lang redet sie – ihre Zukunftspläne erwähnt die 64-Jährige dabei nicht. Einzig das Versprechen „Unsere Arbeit ist noch lange nicht getan – also lassen Sie uns weiter zusammenhalten“ könnte auf weitere Ambitionen hindeuten. Jedenfalls mit viel Interpretationsspielraum.
In dem Fall könnte man ihre gesamte Ansprache als eine Art Bewerbungsrede auffassen. Von der Leyen legte den Schwerpunkt auf geplante Projekte in den kommenden Monaten. Dazu gehören unter anderem der Kampf gegen illegale Migration und die Bestrebungen, die Abhängigkeiten der EU von Ländern wie China zu reduzieren.
Das Echo aus dem Parlament ist dafür erstaunlich durchwachsen. Von den meisten konservativen Parteifreunden kommen freundliche Worte, von CSU-Vize Manfred Weber zum Beispiel. Die Spitzen von CDU und CSU haben sich bereits für von der Leyens Wiederwahl ausgesprochen und erwarten eine Entscheidung bis Frühjahr 2024. Es gibt aber auch Zwischentöne. Der CSU-Abgeordnete Markus Ferber kritisiert die Rede ungewöhnlich hart. „Wolkige Ankündigungen, Recycling bekannter Vorschläge und wenig Neues“ sieht der wirtschaftspolitische Sprecher der EVP-Fraktion. Sie habe die Chance verpasst, ihre Großbehörde neu auszurichten. Sie hinterlasse nichts Substanzielles.
Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley, schließt eine Unterstützung für eine weitere Amtszeit aus. Die SPD-Politikerin verweist auf die anhaltenden Konflikte zwischen der EVP und der Kommissionschefin zum Beispiel um von der Leyens Klimaplan („Green Deal“), gegen den Konservative gekämpft hatten. „Dieser permanente Machtkampf tut der Europäischen Union nicht gut.“ Grüne Politiker versuchen, die Spannungen zu nutzen und legen den Finger in die Wunde. Wenn von der Leyen nicht zügig ihre erneute Kandidatur erkläre, schwäche sie ihre Klimaschutzpolitik, warnte die Abgeordnete Jutta Paulus.
Ein Grund für von der Leyens Geheimniskrämerei könnte sein, dass sie einen achtmonatigen Wahlkampf fürchtet und lieber noch einige Monate wichtige EU-Projekte vorantreiben möchte. Spekuliert wird aber auch, dass US-Präsident Joe Biden sie gerne als Nachfolgerin von Jens Stoltenberg als Nato-Generalsekretär sehen würde. Will sie sich diese Möglichkeit offenhalten? Stoltenberg will sein Amt nach dem nächsten großen Bündnisgipfel im Sommer 2024 in Washington endgültig abgeben.
Von der Leyen wird genannt, weil sie unter Merkel Ende 2013 bis 2019 Verteidigungsministerin war. Allerdings wäre der Umstieg zur Generalsekretärin wohl mit einem Machtverlust verbunden. kab/cd/dpa