Das Drama auf Lampedusa

von Redaktion

VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Lampedusa – Nur knapp 150 Kilometer sind es von der tunesischen Hafenstadt Sfax bis auf die italienische Mittelmeer-Insel Lampedusa. Tausende Migranten haben diesen Weg in den vergangenen Tagen zurückgelegt, die meisten auf kleinen Booten. Alleine am Dienstag erreichten 5018 Migranten die Insel. Insgesamt befanden sich gleichzeitig mehr als 7000 Bootsflüchtlinge auf Lampedusa, das gerade einmal 6000 Einwohner hat. Das Aufnahmezentrum in Hafennähe ist für 400 Menschen vorgesehen. Es herrscht Chaos auf der Insel.

Auf der Hafenmole drängelten sich tausende Migranten. Weil es bei der Essensausgabe durch das Rote Kreuz zu Handgemengen kam, griff die Polizei kurzzeitig mit Schlagstöcken ein. Am Donnerstag sollten rund 2700 Migranten per Schiff nach Sizilien gebracht werden, am Freitag weitere 2300.

„Es ist eine dramatische Situation, eine Apokalypse“, sagte der Pfarrer von Lampedusa, Don Carmelo Rizzo. „Die Neuankömmlinge haben weder ein Bett noch eine Toilette.“ Der Gemeinderat rief am Mittwoch den Notstand und öffentliche Trauer aus. In der Nacht zuvor war ein fünf Monate altes Baby ertrunken, kurz bevor die Küstenwache die Migranten von Bord einer Schaluppe aufnehmen konnte. Weil sich die Menschen in Erwartung der Retter alle auf eine Seite bewegten, kenterte das Boot.

Alleine am Dienstag waren 112 ankommende Boote mit insgesamt mehr als 5000 Mi-granten gezählt worden. „Was in Lampedusa passiert, ist, dass erstmals die tunesische Route so viel befahren wird. Im Vergleich zur Route aus Libyen ist sie komplizierter zu managen“, sagte Flavio Di Giacomo von der Internationalen Organisation für Migration. Die Nähe der Hafenstadt Sfax spielt dabei eine Rolle, die hohe Zahl kleiner und deshalb schwerer kontrollierbarer Boote, die von Schleppern aufs Meer gesetzt werden, aber auch die offenbar unkontrollierte Lage in Tunesien. Rund 60 Prozent aller Boots-Migranten in Italien kommen aus Tunesien. Das nordafrikanische Land, in dem die wirtschaftliche und soziale Lage angespannt ist, gilt als Trichter für Migranten aus West- und Zentralafrika.

Erst im Juli hatte die EU dort mit Staatspräsident Kais Saied ein Memorandum unterzeichnet. Im Gegenzug für Kredite und direkte Budgethilfe in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro soll Tunesien Migranten von der Überfahrt abhalten. Der Deal ist unter anderem wegen der Menschenrechtslage im Land stark umstritten und funktioniert augenscheinlich nicht. In den zwei Monaten nach Unterzeichnung des Paktes erreichten Italien 31 000 Migranten aus Tunesien, in den zwei Monaten zuvor 19 000.

Italiens Transportminister Matteo Salvini bezeichnete die Ankunftswelle als „kriegerischen Akt“. Dahinter stecke ein „organisiertes kriminelles System, dem man mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln begegnen“ müsse. Medien berichten, dass Italiens Geheimdienste eingeschaltet seien. Die Regierung in Rom sucht eine neue Strategie angesichts der zunehmenden Überfahrten, die wegen des guten Wetters weiter anhalten könnten. Offenbar wird auch überlegt, die italienische Marine einzusetzen.

Am Mittwoch hatte die Bundesregierung bekannt gegeben, dass sie den freiwilligen Solidaritätsmechanismus zur Aufnahme von Flüchtlingen ausgesetzt hat. Deutschland hatte sich zur Aufnahme von 3500 Asylbewerbern aus anderen EU-Staaten bereit erklärt, bislang wurden 1700 Menschen überstellt. Die Ankündigung war eine Reaktion auf Italiens Weigerung, Mi-granten zurückzunehmen, die den Dublin-Regelungen zufolge in das Land der ersten Ankunft zurückgeführt werden müssen.

Italiens Regierung hatte das im Dezember verfügt. Die EU solle Italien beim Schutz der Außengrenzen helfen. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sagte nun, sie habe diese Reaktion erwartet: „Das Problem ist nicht, wie wir die Migranten von einer zur anderen Seite schieben, sondern wie wir die Abfahrten verhindern.“ Laut Innenministerium erreichten seit Jahresbeginn 125 928 Menschen Italien über das Mittelmeer.

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