Bengasi – In Libyen schwindet die Hoffnung, vermisste Menschen noch lebend zu finden. Nach den Überschwemmungen in dem nordafrikanischen Land könnte die Zahl der Toten noch dramatisch steigen. Besonders grauenhaft ist die Lage in der Hafenstadt Darna. „Wir erwarten eine sehr hohe Zahl von Opfern. Ausgehend von den zerstörten Bezirken in der Stadt Darna können es 18 000 bis 20 000 Tote sein“, sagte Bürgermeister Abdel-Moneim al-Gheithy dem arabischen Fernsehsender Al-Arabija. Nahe Darna brachen zwei Dämme, ganze Viertel der 100 000 Einwohner zählenden Stadt wurden ins Meer gespült. Mehr als 30 000 Menschen sind obdachlos geworden.
Rettungsteams suchten auch Tage nach dem Unglück weiter in den Trümmern nach Überlebenden. Doch die Hoffnung schwindet von Stunde zu Stunde. Geborgene Opfer wurden in Leichensäcken in Massengräbern verscharrt.
UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths sagte: „Ganze Wohnviertel sind von der Karte verschwunden.“ Die Lage sei „schockierend und herzzerreißend“. Die vordringlichste Aufgabe sei es nun, die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Nach Einschätzung des Leiters der Libyen-Delegation beim Internationalen Roten Kreuz, Yann Fridez, könnte es „viele Monate, vielleicht Jahre dauern, bis die Anwohner sich von diesem riesigen Ausmaß an Zerstörung erholt haben“. Augenzeugen vor Ort berichteten, Darna sei noch immer „voller Leichen“. Hilfe werde dringend benötigt. Insbesondere der Osten der Stadt sei weiter vom Rest abgeschnitten. Kommunikationsverbindungen seien teilweise komplett abgerissen.
Die Lage vor Ort stellt Rettungsteams vor enorme Herausforderungen. Zufahrtsstraßen wurden komplett weggeschwemmt, zentrale Brücken unter Schlammmassen begraben. Doch inmitten der Katastrophe gibt es immer wieder einzelne Lichtblicke. Nach rund 96 Stunden wurde etwa ein 20-Jähriger aus den Trümmern geborgen, wie das libysche Fernsehen al-Masar berichtete.
Zahlreiche Länder haben Hilfe angeboten. Aus Deutschland machte sich ein Flugzeug mit Decken, Zelten, Feldbetten und Stromgeneratoren des Technischen Hilfswerks auf den Weg. Libyen hatte zuvor ein internationales Hilfeersuchen gestellt.
Beobachter geben den Behörden Mitschuld am Ausmaß der Katastrophe. Dies zeige auch die Tatsache, wie schwierig sich die Lage für Rettungsteams und Journalisten vor Ort gestalte, sagt Wolfram Lacher, Libyen-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
Seit dem Sturz von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 ringen zahlreiche Konfliktparteien um Einfluss. Derzeit kämpfen zwei verfeindete Regierungen – eine mit Sitz im Osten, die andere mit Sitz im Westen – um die Macht. Infrastrukturmaßnahmen wurden jahrzehntelang verschleppt. Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaiba von der Regierung im Westen warf der rivalisierenden Regierung im Osten vor, Wartungsverträge für die beiden Dämme nicht abgeschlossen zu haben, obwohl Gelder bereitgestellt worden waren.
Beobachter befürchten, dass sich die Wut über die Katastrophe auf den Straßen entladen könnte. „Der Schock, der in den kommenden Wochen in offene Wut umschlagen könnte, ähnelt dem, was die Aufstände Anfang 2011 auslöste“, so Nordafrika-Experte Jalel Harchaoui.
Der Generalsekretär der Weltwetterorganisation, Petteri Taalas, sieht die Opferzahlen auch im Fehlen eines funktionierenden Frühwarnsystems begründet. Der Wetterdienst habe zwar vor einem herannahenden Unwetter gewarnt, aber nicht das Risiko genannt, das die alten Dämme, die später brachen, darstellten. Dann hätten die Rettungsdienste Evakuierungen vornehmen können, hatte Taalas zuvor gesagt. „Wir hätten die meisten der Opfer vermeiden können.“