München – Wie sich die Mächtigen in Warschau selbst so empfinden, das war jüngst in einem Wahlspot der rechtskonservativen PiS-Partei zu sehen. Darin ruft ein fiktiver deutscher Botschafter bei PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski an, um ein Gespräch mit Kanzler Olaf Scholz zu vermitteln. Im Hintergrund tönt bedrohlich Richard Wagners „Ritt der Walküren“, dann sagt Kaczynski, ernst blickend, diese Angewohnheiten seien vorbei – und legt auf.
Von Deutschland, soll das heißen, lässt Polen sich nichts diktieren, nicht bei der Rente, nicht beim Klima, schon gar nicht beim Thema Migration. Gerade hier inszeniert sich Polens rechtskonservative Regierungspartei PiS gern als Bollwerk gegen die eher liberale Politik in Brüssel oder Berlin. Vier Wochen vor der Wahl bekommt das selbst geschaffene Image aber Risse.
Grund sind die Enthüllungen um illegal vergebene Arbeitserlaubnisse an Menschen aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten. Unabhängige Medien und die Opposition werfen den polnischen Behörden vor, Visa gegen Schmiergeldzahlungen ausgestellt zu haben. Das Außenministerium soll Namenslisten an seine Konsulate in Ländern wie Nigeria, Uganda oder Indien geschickt haben. Die Zahlen variieren: Die Zeitung „Gazeta Wyborcza“ schreibt von 600 000 verschacherten Visa seit 2021, die Opposition geht von 250 000 aus, die PiS, die das Thema unbedingt kleinhalten will, von 200. Außenminister Zbigniew Rau, dessen Vize Ende August – offenbar wegen der Affäre – entlassen wurde, lehnt jede Mitverantwortung ab. „Ich fühle mich nicht mitschuldig, ich denke nicht daran, zurückzutreten, und es gibt keine Visa-Affäre“, sagte er am Montag.
Ob es wirklich so einfach ist? Die Opposition sieht das anders und spricht von einem der „größten Skandale in Polen“ in diesem Jahrhundert. Aber auch Beobachter halten das Thema für explosiv. „Der Skandal beschäftigt das Land nun seit gut einer Woche“, sagt der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), David Gregosz, unserer Zeitung. „Er hat das Potenzial, den Wahlkampf aufzumischen.“
Belastend ist die Sache für die PiS aus zwei Gründen: Einerseits, weil sie das Vertrauen Europas erschüttern könnte. „Gesichert“ könne man, Stand heute, von einer hohen fünf- bis zu einer niedrigen sechsstelligen Zahl an illegal ausgestellten Visa ausgehen, sagt Gregosz. „Wir wissen nicht, wie viele Menschen Polen nur als Einfallstor in den Schengenraum genutzt haben und in andere Länder wie Deutschland weitergereist sind.“ Gerade für die Beziehungen zu Berlin wäre das ein ernstes Problem.
Aus PiS-Sicht noch wichtiger ist die Glaubwürdigkeit im eigenen Land. Am 15. Oktober sind Parlamentswahlen, und die Regierungspartei macht im Wahlkampf nicht nur Stimmung gegen Berlin, sondern auch gegen Migration. Angesichts der Vorwürfe ist der Widerspruch zwischen Reden und Handeln enorm.
Es sei nicht auszuschließen, dass die oppositionelle Bürgerplattform (PO) um Ex-Ministerpräsident Donald Tusk davon profitiert, sagt KAS-Leiter Gregosz. Allerdings spricht auch einiges dagegen: Umfragen sehen die PiS trotz der Enthüllungen weiter vorne. Deren Anhänger gelten als treu, viele dürften daher dem Partei-Narrativ folgen, das die Sache umzudrehen versucht. Der entlassene Vize-Außenminister sei ein Opfer von Medien und Opposition, heißt es. Er hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. Hinzu kommt, dass der Skandal in den öffentlich-rechtlichen Medien so gut wie gar nicht vorkommt. Gerade auf dem Land, wo die PiS stark ist, kommt er deshalb nicht an.
Für Gregosz, der die Dinge von Warschau aus beobachtet, ist die Sache offen. „Die Regierungspartei hat in den letzten acht Jahren immer wieder Krisen überstanden“, sagt er und erinnert an den Pegasus-Skandal von Anfang 2022. Der PiS wurde damals vorgeworfen, die Opposition per Spionage-Software ausgespäht zu haben. „Im Grunde ein Mini-Watergate“, sagt Gregosz. „Aber die Sache ging fast spurlos an der Partei vorbei.“
So könnte es auch jetzt laufen. Tusk, der nach neun Jahren zurück ins Amt will, hat jedenfalls noch einiges aufzuholen. In den jüngsten Umfragen lag seine PO bei 26, die PiS bei 33 bis 35 Prozent. Die absolute Mehrheit wäre das nicht – aber ein Regierungsauftrag.