Aus Angst nicht mehr zum Infostand

von Redaktion

Die Grünen beklagen eine aggressive Stimmung im Wahlkampf und verlangen Mäßigung

München – Seit dem Auftritt von Cem Özdemir in Chieming ist für Cathrin Fernando das Leben ein anderes. In Altötting kandidiert die grüne Kommunalpolitikerin für den Bezirkstag. „Ein ganz kleines Licht“ sei sie. Mit ihrem Mann und den beiden Kindern (12 und 9) sei sie Anfang August zum Auftritt des Landwirtschaftsministers gekommen. Plötzlich hätten um sie viele mit Trillerpfeifen gepfiffen. Ohrenbetäubend. Die Stimmung sei gekippt. Nicht aufgebrachte Landwirte, sondern „offensichtliche Neonazis“ seien im Zelt gewesen. Noch vor Özdemirs Rede sei sie aus dem Zelt geflohen. „Ich wollte den Kindern diesen Hass nicht länger antun“, sagt Fernando.

Geschichten wie diese hört man bei den Grünen häufig dieser Tage. Von Johannes Becher zum Beispiel. „Kürzlich ist mir gesagt worden, dass ich eigentlich an die Wand gestellt und erschossen gehöre“, erzählt der Freisinger Landtagsabgeordnete. Becher selbst gibt sich weiter kämpferisch. Bei anderen aber hinterlässt das Spuren.

„Viele unserer Ehrenamtlichen trauen sich nicht mehr, im Wahlkampf ihre Meinung zu sagen – aus Angst vor Angriffen“, sagt Jamila Schäfer, die im Bundestag Sprecherin der bayerischen Landesgruppe ist. Aus Sorge würden sie sich nicht mehr an Infostände stellen oder Haustürwahlkampf machen. „Jetzt flogen Steine auf unsere Spitzenkandidaten, und damit sehen sich viele in der Angst bestätigt“, sagt Schäfer.

Verbale Angriffe sind in den Bierzelten des Freistaats keine Seltenheit. Spätestens seit der Demo gegen das Heizungsgesetz in Erding richten sie sich vor allem gegen die Grünen. Natürlich kommen sie von der AfD. Aber auch Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger und führende CSU-Politiker haben den Ton verschärft. Auf dem Gillamoos sagte Markus Söder: „Die Grünen passen mit ihrem Weltbild nicht zu Bayern.“ Später sprach er ihnen das „Bayern-Gen“ ab.

Für Jamila Schäfer liefern solche Äußerungen die Vorlage für eine kleine, aggressive Minderheit. „Ich fordere die CSU auf, sich mal mit uns zusammenzusetzen, um gemeinsam Strategien gegen diese Zersetzung der politischen Kultur in Bayern und Deutschland zu besprechen“, sagt die Bundestagsabgeordnete. „Wir müssen wieder zu einem normalen Diskurs zurückfinden, wo Lösungen und Argumente statt Hass und Schuldzuweisungen gesucht werden.“

Söder selbst hatte sich bereits am Montag nach der CSU-Vorstandssitzung besorgt geäußert. „Wir sind auf dem Weg zu einer destruktiven Demokratie“, sagte der CSU-Chef. „Es ist eine neue Form der Sittlichkeit, in der man den anderen fast das Recht abspricht, Politik zu machen.“ CSU-Generalsekretär Martin Huber wollte den Steinwurf in Richtung des grünen Spitzenduos in Neu-Ulm gestern aber nicht kommentieren. SPD und FDP brachten dagegen ihre Solidarität zum Ausdruck. Der Werfer war Corona-Leugner.

In Chieming beim Özdemir-Auftritt hatten junge Männer vor dem Zelt einen Stand aufgebaut. Im Sortiment: Wurfgeschosse aller Art. Tomaten, Eier, Klopapier, kleine Steine, aber auch große, die geworfen schwerere Verletzungen herbeiführen können. Ein Spaß?

Cathrin Fernando will trotzdem weitermachen. Heute steht sie am Infostand. Mit mulmigem Gefühl. Sie sei in die Politik gegangen, weil sie vor Ort etwas bewirken wolle. Dafür, dass auch in kleineren Ortschaften nicht alles nur aufs Auto ausgelegt sei. Dafür, dass wir „unsere schöne Natur erhalten“. Das Bayern-Gen? „Natürlich habe ich das!“ Für den Özdemir-Auftritt hatte sie extra ein Dirndl angezogen. M. SCHIER/M. ESER

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