München – Mikhail Zygar war von 2010 bis 2015 Chefredakteur des unabhängigen russischen TV-Senders Doschd. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine startete der 42-Jährige eine Petition gegen den Krieg – und musste Russland verlassen. Heute lebt Zygar in Berlin. Jetzt hat der Kremlkritiker das Buch „Krieg und Sühne“ (Aufbau Verlag, 32 Euro) veröffentlicht, in dem er die Geschichtsverfälschungen beschreibt, mit denen Wladimir Putin seinen Angriffskrieg begründet.
Glauben die Millionen russische Zuschauer, die Sie beim kremlkritischen TV-Sender Doschd hatten, Putins Propaganda?
Die russische Bevölkerung ist genauso divers und polarisiert wie die deutsche oder die US-Bevölkerung, auch wenn das im Moment nicht so offensichtlich ist. Doschd hat übers Internet immer noch 20 Millionen Zuschauer, mindestens 13 Millionen davon in Russland – das sind zehn Prozent der Bevölkerung, die nicht die Augen vor der traurigen Realität in Russland verschließen wollen. Dann gibt es noch rund 20 Prozent der Russen, die den Kriegskurs Putins wirklich aktiv unterstützen, aus Überzeugung oder aus Karrieregründen. Aber der Großteil der Bevölkerung will sich schlicht nicht mit dem Krieg oder der brutalen Unterdrückung der Opposition auseinandersetzen. Sie sind müde und frustriert und schweigen lieber.
Ist es dann nur Wunschdenken des Westens, wenn man auf einen Sturz Putins hofft, um den Krieg in der Ukraine zu beenden?
Ich glaube, dass tatsächlich nur Putins Tod den Krieg beenden kann. Putin braucht diesen Krieg, um sein Land unter Kontrolle zu halten und an der Macht zu bleiben.
Sie sehen also keine Hoffnung auf eine Verhandlungslösung zwischen Selenskyj und Putin?
Nein. Die ukrainische Bevölkerung würde Verhandlungen mit Putin als Verrat ansehen. Aber Putin will sowieso keine Verhandlungen, sondern den Krieg am Laufen halten. Selbst ein Waffenstillstand würde ihm nur dazu dienen, Zeit bis zu den US-Wahlen zu gewinnen. Putin hofft auf eine Rückkehr Trumps ins Weiße Haus, der dann die US-Unterstützung für Kiew beendet. Dann würde er erneut losschlagen, um doch noch die gesamte Ukraine zu erobern.
Was kommt nach Putin in Russland?
Die einzige Hoffnung auf ein demokratisches, freies Russland gibt es bei einer Niederlage Russlands in der Ukraine und einem Kriegsverbrecherprozess gegen Putin. Doch das wahrscheinlichere Szenario ist, dass die Nachfolge aus Putins innerem Kreis erwächst. Auch dort gibt es Leute, die den Krieg gerne beenden würden.
Haben Prigoschins Marsch nach Moskau und sein Tod irgendetwas in Russland verändert?
Ja, es hat gezeigt, dass Putin weniger Macht hat, als er selbst geglaubt hat. Es war ein symbolischer Akt, der bewiesen hat, wie leicht es möglich wäre, einen Umsturz herbeizuführen. Aber gleichzeitig nutzte Putin die Ereignisse, um mit all den patriotisch-faschistischen Kritikern aufzuräumen, die den Krieg zwar unterstützen, aber ihn gerne noch brutaler und blutiger führen würden. Das war sehr erfolgreich. Putin schaffte es, viele Leute mundtot zu machen, die seine Macht gefährden könnten.
Ihre Journalisten-Kollegin Jelena Kostjutschenko soll in München vom russischen Geheimdienst vergiftet worden sein. Fürchten auch Sie um Ihr Leben?
Darüber will ich nicht spekulieren, das ist für mich und meine Familie eine zu ernste Frage, eine Frage von Leben und Tod. Wir sehen, dass in der Ukraine jeden Tag Menschen sterben. Es ist klar, dass die Situation sehr ernst ist.
Interview: Klaus Rimpel