„Sonst bricht das System zusammen“

von Redaktion

Ein Dachgeschoss-Zimmer in Berlin, modern eingerichtet, viel Weiß, viele Bücher, davor ein recht aufgeräumt wirkender Minister: Christian Lindner verbringt seine freiwillige Corona-Quarantäne in seiner Wohnung. Er hadert nicht, kommt mit bisher leichten Symptomen durch und nutzt die Zeit zur Aktenarbeit, zu Telefonaten – und zum Video-Interview. Hier unser Gespräch mit dem FDP-Chef.

Ihr Generalsekretär sagte: Wir nehmen niemanden aus Lampedusa auf. Ist das Wahlkampf-Geklingel oder eine knallharte Koalitionsfrage?

Die Kontrolle an den Grenzen zurückzugewinnen, ist für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zentral. Das reicht weit über Wahltermine hinaus. Übrigens kostet uns ungeordnete Migration inzwischen viele Milliarden Euro. Dieses Geld fehlt für Investitionen, weil viele Jahre seit 2015 der Mut zur Konsequenz fehlte. Deshalb brauchen wir eine Wende in der Migrationspolitik, die vergleichbar ist mit dem Asylkompromiss Anfang der 1990er-Jahre.

Nämlich wie?

Ich nehme große Offenheit für die Zuwanderung qualifizierter Menschen wahr, aber keinerlei Bereitschaft mehr, ungeordnete Migration in unsere Sozialsysteme zu tolerieren. Die Bundesregierung hat sich bereits auf Schritte geeinigt, die sich von der Vorgängerregierung unterscheiden: beispielsweise den Schutz der europäischen Außengrenze, mehr Rückführungen, sichere Herkunftsländer – darauf warten wir seit Jahren. Aber es reicht noch nicht.

Das geht den Grünen doch eher zu weit. Passt die Richtung in der Koalition überhaupt, vom Tempo ganz zu schweigen?

Die Grünen sind teilweise schon über ihren Schatten gesprungen. Das findet meine Anerkennung. Aber die Probleme erfordern mehr Konsequenz. Wir hätten beispielsweise bereits vor der Sommerpause mit Georgien und Moldau Rückführungsabkommen schließen und sie als sichere Herkunftsstaaten einstufen können, wenn es dazu die Bereitschaft gegeben hätte. Es ist an der Zeit, mit Wunschvorstellungen aufzuräumen. Auch aus einer verantwortungsethischen Betrachtung überwiegt jetzt das Interesse an Kontrolle die Bereitschaft zur Aufnahme. Ohne Steuerung der Einwanderung würde jedes System öffentlicher Ordnung und sozialer Sicherheit zwangsläufig zusammenbrechen.

Aus der Union kommt ein Vorstoß zu einer Arbeitspflicht für Asylbewerber. Finden Sie das illiberal?

Man kann alles erwägen. Ich ziehe vor, dass Asylbewerber idealerweise ihre Verfahren vom Ausland aus beginnen und überhaupt erst mit einem positiven Bescheid einreisen.

Viele sind aber schon hier. Das Sachleistungsprinzip für abgelehnte Asylbewerber, zumindest die Chipkarte – begrüßen Sie diese Ideen?

Bei abgelehnten Asylbewerbern ziehe ich die Rückführung vor, nicht den Bezug von Leistungen. Während des Asylverfahrens – das übrigens wesentlich beschleunigt werden muss – sollten wir aber viel stärker auf Sachleistungen setzen. Außerdem sollten wir ein „financial blocking“ prüfen: dass Geldleistungen nicht in die Herkunftsländer überwiesen werden, wie das gegenwärtig zu oft der Fall ist. Mit einer bundesweiten Bezahlkarte, wie die FDP sie vorschlägt, wäre das zu erreichen.

Blicken wir auf die Wahl in Bayern: Halten Sie Hubert Aiwanger für einen überzeugten Demokraten oder für einen vergesslichen Brandstifter?

Jeder Mensch macht Fehler, jeder darf sich verändern. Entscheidend ist, wie man damit umgeht. Wir haben bei Herrn Aiwanger eine Salamitaktik in der Kommunikation und keine echte Abgrenzung gesehen. Für mich war das nicht glaubwürdig.

Überraschend hat sich Horst Seehofer mal wieder gemeldet. Er empfiehlt der CSU ein Bündnis mit der FDP, die aber wohl leider nicht in den Landtag komme. Ist das nett von ihm – oder eine Schmutzelei?

Man kann Horst Seehofer nicht vorwerfen, dass er kein staatspolitisches Verantwortungsgefühl hätte. Er hat nämlich Recht. Der Wohlstand Bayerns hängt am starken Mittelstand und an Spitzenunternehmen, die auf den Weltmärkten erfolgreich sind. Dafür braucht es einen Wirtschaftsminister, der Innovation statt Stammtische anheizen will und der auf den Weltmärkten Türen öffnen kann.

Interview: Chr. Deutschländer, Chr. Dankbar, Anne-Chr. Merholz

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