München – Vor zwei Jahren hat der Landtag feierlich einen seiner großen Konferenzräume in „Weiße-Rose-Saal“ umbenannt. Es war eine Ehrung für die mutigen Widerstandskämpfer, die sich 1942 und 1943 mit Flugblättern gegen das Nazi-Regime wandten. Genau in diesem Raum treffen sich heute die Führungsleute der jetzigen und wohl künftigen Staatsregierung, um mal ganz grundsätzlich über Demokratie zu reden. Über Anstand. Und über Flugblätter.
Die Aussprache soll am Anfang der Koalitionsgespräche zwischen CSU und Freien Wählern stehen. Das Klima ist belastet. Ministerpräsident Markus Söder hat seinen drei FW-Ministern öffentlich Defizite in der Arbeit vorgeworfen und von seinem Vize Hubert Aiwanger ein klares Bekenntnis zur Demokratie verlangt nach dessen Auftritt in Erding und der Flugblatt-Affäre. Die Freien Wähler erbosen solche Vorhaltungen.
Wie sehr, zeigt Aiwanger am Mittwoch im Landtag. Kurz vor der ersten Sitzung seiner FW-Fraktion tritt er zornig vor die Journalisten. Ein Gespräch über Demokratie? Oh ja, „dringend nötig“, sagt er, verweist auf Corona-Beschlüsse von Söder, die vor Gerichten nicht standhielten. Aiwanger erinnert daran, wie ihn Söder 2020 vor laufenden Kameras auf seine Impf-Skepsis angesprochen hatte. „Wir haben einige Demütigungen hinnehmen müssen“, sagt der FW-Chef. „So etwas lasse ich mir nicht mehr gefallen.“ Einen „faireren“ Umgang verlangt er und will das heute im Gespräch einfordern.
Kenner glauben: Es wird rummsen heute im Saal nach drei Tagen öffentlicher Fehde – doch die Koalition wird kommen. Aiwanger legt sich auf das Bündnis mit der CSU fest, ein anderer Fall „wird nicht eintreten“. Söder hat Schwarz-Grün ausgeschlossen, nur eine wackelige Alternative mit der SPD und einen engen Zeitplan bis zur Ministerpräsidentenwahl, die er für 31. Oktober will.
Aufgestellt haben sich die beiden Fraktionen nun für die Gespräche. Die 37 FW-Abgeordneten bestätigten am Nachmittag einstimmig Florian Streibl als Fraktionschef und nominierten wie erwartet Alexander Hold als Landtagsvizepräsidenten. Der Oberammergauer Streibl (60) und der Niederbayer Aiwanger (52) sind der Kern der Sondierungsgruppe, zu der gewiss auch Hold, Kultusminister Michael Piazolo und Fraktionsmanager Fabian Mehring stoßen, vielleicht auch die Abgeordnete Ulrike Müller, die aus dem EU-Parlament nach München wechselt. Dass Söder und Streibl dem Vernehmen nach ein höflich-vertrauensvolles Verhältnis pflegen, könnte den Gesprächen helfen.
Was die Freien Wähler inhaltlich wollen, haben Abgeordnete in Teilen angedeutet. Aiwanger fordert eine Festlegung gegen den Bau einer dritten Startbahn am Flughafen. Er will ein Konzept für Bürokratieabbau, ein staatliches Bauprogramm, einen bayerischen Plan zur Krankenhausfinanzierung und generell eine Politik „stark an der Seite von Landwirtschaft und Mittelstand“.
Das lässt Schlüsse zu, welche Politikfelder die nun gestärkten Freien Wähler prägen wollen. Der Streit ums Agrarministerium ist offen, ein abgespaltenes Bauministerium würde die FW interessieren, vielleicht auch der frei werdende Bereich Gesundheit. Über Justiz wird geraunt. Personalien: offen, es ist früh. Wirtschafts-Staatssekretär Roland Weigert (55), der zum Schrecken der CSU seinen Stimmkreis Neuburg direkt gewann, würde gern Minister werden. Ulrike Müller auch. Und der ebenfalls aufstrebende Mehring verbreitet in einer ausführlichen Würdigung der Streibl-Wahl, dass dieser „weiterhin“ und „hervorragend“ Vorsitzender der fast zu 50 Prozent erneuerten Fraktion bleiben werde. Auch Hold wird nicht ins Kabinett wechseln.
Aiwanger stellt dafür klar, die Partei nicht dauerhaft rechts von der CSU positionieren zu wollen; was unter anderem Streibl und Weigert auch nicht akzeptieren würden. „Wir stehen in der Mitte seit Jahrzehnten“, sagt er. „Wir sind quasi die Slalomstange, um die die CSU immer herumfährt.“