Berlin – Das Abendessen mit Olaf Scholz war fast vorbei, da packte Friedrich Merz einen Zettel aus. Drei Seiten, 26 Punkte, ein Grundsatzpapier, wie sich die Unionsfraktion die Migrationspolitik vorstellt, drückte der Oppositionsführer dem Kanzler in die Hand. Die deutsche Aufnahmekapazitäten „sind erschöpft“, heißt es darin. Gedacht ist das Papier, das Scholz wohl emotionslos entgegennahm, nicht als Kampfansage, sondern als gemeinsame Arbeitsgrundlage.
Tatsächlich kann das ungewöhnliche Treffen am Freitagabend bei Kalbsschnitzel und Bratkartoffeln der Start einer neuen Zusammenarbeit sein. Scholz, Merz und die Sprecher der Ministerpräsidenten, Boris Rhein (CDU) und Stephan Weil (SPD), berieten zwei Stunden über die Migration. Er nehme den Eindruck mit, dass Scholz „wirklich ernsthaft“ über die Begrenzung sprechen wolle, befand Merz. „Das soll ein Thema sein, wo wir miteinander die Probleme lösen und nicht alle mit dem Finger aufeinander zeigen“, sagte Scholz. „Ich glaube, das hat unser Land verdient. Deshalb bin ich ziemlich zuversichtlich, dass wir das schaffen werden, uns unterzuhaken.“
Haken statt hakeln: In der Union gibt es sogar Gedankenspiele weit darüber hinaus. Führende Politiker der Fraktion beraten nach Informationen unserer Zeitung darüber, Scholz konkret einen Koalitionswechsel auf Zeit vorzuschlagen: Eine rot-schwarze GroKo soll die großen Probleme der nächsten Monate bewältigen.
Beobachter bemerken, dass die Union nicht mehr laut nach Neuwahlen ruft, obwohl sie in Umfragen klar führt. Statt dessen könnte das Angebot an den Kanzler sein, ihn für eine bestimmte Dauer – nicht die volle Periode bis Herbst 2025 – aktiv in der Regierung zu unterstützen. Ob er das annehmen soll oder es ihm helfen könnte, die in der Migrationspolitik zögerlichen Grünen von einer fundamentalen Wende zu überzeugen, ist dabei im Ergebnis gar nicht so entscheidend.
Ein erstes Koalitionsangebot von Merz und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt im September im Bundestag hatte die SPD nicht so ernst genommen. In den Medien findet das allmählich Widerhall. „Es wäre ein Deutschland-Beben“, schreibt etwa „Bild“, Scholz könne die Asylkrise geräuschlos lösen und Merz sich als Vizekanzler profilieren. „Der SPD sollte der Ernst der Lage in der Tat einen Koalitionswechsel wert sein“, analysierte dieser Tage auch die FAZ. Unmittelbar steht das aber nicht bevor. Bund und Länder geben sich drei Wochen, um bis zum nächsten Treffen von Scholz und den Ministerpräsidenten am 6. November in Berlin einen Konsens zur Begrenzung der illegalen Migration zu finden.
Kernforderungen der Union und der meisten Länder sind, die Sozialstandards für Flüchtlinge zu senken, Bezahlkarten statt Bargeld einzuführen, den Grenzschutz zu verbessern, Abschiebungen zu erleichtern und mehr sichere Herkunftsstaaten zu definieren. In CDU und CSU reift zudem die Forderung, Migranten zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten; hier ist die SPD skeptisch. Ebenso unwahrscheinlich ist eine Art „Obergrenze“ von 200 000, die heuer schon 15 Prozent überschritten wäre.
Die FDP als kleinster Partner in der Ampel verfolgt die Gespräche konstruktiv. „Die Mehrheit der Menschen in unserem Land wünscht sich bei der Begrenzung irregulärer Migration eine parteiübergreifende Lösung“, verbreitete die Parteispitze.
Bei den Grünen gibt es zumindest ernste Debatten. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann rief seine Partei zu Kompromissen auf. „Wenn wir im Namen der Humanität die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft auf Dauer massiv überfordern, dann werden wir die Akzeptanz verlieren“, warnte er bei einem Landesparteitag in Weingarten. „Das Ergebnis einer solchen Politik wäre dann nicht mehr, sondern weniger Humanität.“ (mit dpa)