München – Am Tag danach muss die Berliner Polizei dringend etwas klarstellen. In den Sozialen Medien kursiere das Gerücht, bei den jüngsten Ausschreitungen rund um eine propalästinensische Demonstration in Neukölln sei ein 13-Jähriger gestorben. „Das ist ein Fake“, korrigiert die Polizei. Der Abend und die Nacht mögen wieder schlimm gewesen sein, aber so dramatisch eskaliert ist die Gewalt dann doch nicht.
Dass eine solche Richtigstellung überhaupt nötig ist, zeigt, wie angespannt die Stimmung auch in Deutschland ist – nicht nur in der Hauptstadt, aber dort ganz besonders. Weder zweifelt man daran, dass schon Heranwachsende an den israelkritischen Protesten teilnehmen, noch würde man nach Ansicht der Bilder ausschließen, dass Menschen ernsthaft zu Schaden kommen.
Die jüngsten Szenen aus Neukölln wirken auf traurige Weise bereits vertraut. Wie am Vorabend erhellen Feuerwerkskörper die Sonnenallee, überall ist ein Donnern und Zischen, Steine fliegen und Wurfgeschosse mit brennenden Flüssigkeiten. In dieser buchstäblich explosiven Atmosphäre kommt es immer wieder zu Handgemengen zwischen Demonstranten und Beamten. Am Ende sind 65 Polizisten verletzt und 174 Menschen vorübergehend festgenommen.
Die Zahlen befeuern die Debatte um die massiv antisemitischen Kundgebungen und darüber, wie ein Verbot zu realisieren und mit Gewalttätern umzugehen ist. Justizminister Marco Buschmann (FDP) gibt sich im RBB kompromisslos: „Wir müssen das Recht auf unseren Straßen durchsetzen.“ Etwas nachdenklicher klingt NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) im Deutschlandfunk. Einfache Lösungen gebe es nicht. Wer ein entschiedenes Eingreifen fordere, riskiere Bilder, „die werden nicht schön sein“.
Diejenigen, die dafür zuständig sind, klingen dann auch, als fühlten sie sich ein bisschen allein gelassen. Jochen Kopelke, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), berichtet im „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ von einer „absolut widerlichen Stimmung“, die seine Beamten auf der Straße zu spüren bekämen. Er fordert die „Rückendeckung von Politik und Bevölkerung“ ein. „Dass der Schutz Israels Staatsräson ist, sind gute Worte, aber dann darf es auch keine Diskussionen darüber geben, dass die Polizei zu hart durchgreift.“
Berlin ist das Epizentrum der Proteste, auch anderswo, zum Beispiel in Frankfurt, eskaliert die Gewalt so sehr, dass Wasserwerfer anrücken müssen. In Bayern hingegen ist die Lage, die sich kurz nach den Hamas-Angriffen zunächst gefährlich aufschaukelte, aktuell vergleichsweise ruhig. In Augsburg wurde die israelische Flagge zweimal heruntergerissen, in Nürnberg, wo sich am Mittwoch rund 500 Personen versammelten, ein Plakat beschlagnahmt. Beunruhigend genug.
Erst am Mittwoch warnten Münchner Imame vor einer möglichen Eskalation (laut BR soll es heute zu einem Gespräch mit OB Dieter Reiter kommen). Auch Jan Pfeil, stellvertretender Landesvorsitzender der GdP, will der Ruhe nicht trauen: „Es kann jederzeit kippen.“ Er weist aber auch darauf hin, dass in einer „Welthauptstadt“ wie Berlin ganz andere Verhältnisse herrschen als im Freistaat.
Dass etwa in der Landesmetropole München die Lage eine andere ist als in Berlin, hat auch demografische Gründe. Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung war zwar Ende 2022 mit 30,1 Prozent nicht nur mehr als doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt (14,6), sondern lag auch klar über dem Berliner Wert (23,9). Während aber in der Hauptstadt neben Türken (110 380) auch viele Muslime aus Syrien (46 475) oder Afghanistan (20 140) leben, die auf die jüngsten Entwicklungen besonders emotional reagierten, folgen in München hinter der Türkei (38 709) vor allem süd- und osteuropäische Länder.
GdP-Mann Pfeil nennt noch einen anderen Unterschied. In Bayern sei der Rückhalt der Polizei in der Bevölkerung wesentlich ausgeprägter. Das höre er immer wieder, etwa letztes Jahr beim G7-Gipfel, als Beamte aus anderen Bundesländern anreisten. Was die von Großeinsätzen im Norden berichteten, ob in Berlin oder beim G 20-Gipfel, klang furchterregend: „Für die Polizei ist oft gar nicht abwägbar, ob sie Freund oder Feind gegenübersteht.“