Israel in der Vertrauenskrise

von Redaktion

VON CHRISTINA STORZ, afp, dpa

Tel Aviv – Es sind die eher seltenen Auftritte von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. In einer Fernsehansprache richtete er sich am Mittwochabend an die Nation. In Schwarz gekleidet bekräftigt er das Ziel, die islamistische Hamas im Gazastreifen zu zerstören, stellt eine Bodenoffensive in Aussicht. Aber auch an Tag 18 übernimmt er keine Verantwortung für das politische und militärische Versagen am Tag des blutigen Anschlags der Hamas.

Stattdessen kündigt Netanjahu an, die Ereignisse vom 7. Oktober nach dem Krieg untersuchen zu lassen. „Alle werden Antworten geben müssen – auch ich.“ Gegenwärtig sei es aber seine Verantwortung, „die Zukunft des Landes zu sichern“.

Anders als Verteidigungsminister Joav Galant oder die Chefs israelischer Geheimdienste weigerte sich Netanjahu bisher, Fehler einzugestehen. Beobachter sind sich einig, der 74-Jährige wolle auch nach dem Krieg im Amt bleiben. Obwohl unter seiner Führung das schlimmste Massaker der israelischen Geschichte passieren konnte.

Experte Chuck Freilich vom israelischen Institut für Sicherheitsstudien sagt, Netanjahu und seine rechtsextremen Koalitionspartner tragen die Hauptschuld für das Debakel. Die Regierung sei abgelenkt gewesen, hätte sich auf ihre extremen Pläne zum Umbau der Justiz konzentriert. Monatelang spalteten diese die israelische Gesellschaft. Warnungen – auch von Galant – vor einer Gefahr für Israels Sicherheit, blieben ungehört.

Tausende Reservisten kündigten wegen der Politik an, nicht mehr zum Dienst anzutreten. „Das Militär war vor dem Auseinanderfallen, die Soldaten haben den Ball aus den Augen verloren“, sagt Freilich. Ob er sich Netanjahu trotz allem im Amt halten könne, sei schwer zu sagen: „Ich denke nicht, aber er wird alles dafür tun.“

Die Wut auf den Regierungschef schlägt sich auch auf den Straßen Tel Avivs nieder. Wo sich vor vier Wochen noch Demonstranten gegen die Justizreform-Pläne versammelten, sind heute Proteste zur Befreiung der 220 in den Gazastreifen verschleppten Geiseln. Viele Demonstranten fordern das Ende von Netanjahus Amtszeit.

Der massive Vertrauensverlust spiegelt sich auch in jüngsten Umfragen wider. Lediglich 18 Prozent der Befragten vertrauen laut Untersuchungen des israelischen Demokratieinstituts (IDI) noch der politischen Führung. Das Vertrauen in das Militär bleibt dagegen mit 87 Prozent unangefochten. „Auch wenn das Vertrauen schwer verletzt wurde, am Ende verstehen die Menschen in Israel, dass sie nur mit dem Militär gewinnen können“, sagt Freilich.

An der Grenze zum Gazastreifen stehen bereits tausende Soldaten bereit, um dieses Ziel zu erreichen. Der entscheidende Befehl für eine Bodenoffensive steht weiter aus. Der Ball liege bei der Politik, betonten Militärvertreter in den vergangenen Tagen immer wieder. Dort scheint das weitere Vorgehen noch nicht endgültig entschieden.

Israelische Kampfpanzer sind bereits probeweise in den Norden des Gazastreifens vorgestoßen. Es seien dabei in der Nacht auf Donnerstag „zahlreiche Terroristen, terroristische Infrastruktur und Abschussrampen für Panzerabwehrraketen“ aufgespürt und angegriffen worden, teilte die Armee mit. Danach hätten die Soldaten das Gebiet wieder verlassen. Er sei Teil der Vorbereitungen „für die nächsten Kampfphasen“ gewesen, hieß es.

Bei den israelischen Angriffen auf den Gazastreifen sollen nach Angaben der Hamas geschätzte „fast 50“ israelische Geiseln getötet worden sein. Das meldete die Terrorgruppe am Donnerstag auf dem Online-Dienst Telegram. Die Angaben konnten zunächst allerdings nicht von unabhängiger Seite überprüft werden.

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