München – Der Blick aus dem Flugzeugfenster zeigt Männer, die über das Rollfeld auf die Maschine zu rennen. „Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen“, hört man den Piloten in einer Durchsage auf Russisch sagen. „Und versuchen Sie nicht, die Flugzeugtüren zu öffnen.“ Draußen sei ein Mob unterwegs, „von dem wir nicht wissen, woher er kommt – und warum“. Dann endet das Video. Andere Aufnahmen zeigen das Innere des Flughafens Machatschkala. Hunderte Männer stürmen das Terminal B. Sie laufen durch Sicherheitskontrollen, treten Türen ein, schreien Mitarbeiter an. Zwischendurch hört man „Allahu Akbar“-Rufe (Gott ist groß). Sie drängen zu dem Flugzeug, das gerade aus Tel Aviv gelandet ist.
Die Szenen aus der russischen Teilrepublik Dagestan gehen um die Welt. Als der islamistische Mob den Flughafen der Hauptstadt Machatschkala am Sonntagabend stürmt, werden 20 Menschen verletzt, darunter neun Polizisten. 60 Menschen werden festgenommen, so das russische Innenministerium.
Zuvor haben Gerüchte über die ankommende Maschine aus Israel die Runde gemacht. Vor dem Flughafen hält jemand ein Schild mit der Aufschrift „Kindermörder haben keinen Platz in Dagestan“ in die Luft. Männer versuchen, Israelis ausfindig zu machen. Auf mehreren Videos ist zu sehen, wie sie die Reisepässe von Passagieren kontrollieren. „Ich bin Usbeke“, beteuert ein Mann, der von mehreren Darginern umringt ist. „Ich spreche kein usbekisch“, sagt er auf Russisch, „ich bin in Smolensk geboren.“ Sie glauben ihm nicht. „Ich habe seinen Pass“, ruft ein Mann. „Du wartest hier, bis wir eine Entscheidung getroffen haben.“
Am späten Abend dann erklärt die russische Luftfahrtbehörde, dass der Flughafen „frei von Staatsbürgern ist, die ohne Erlaubnis eingedrungen sind“. Der Airport werde bis zum 6. November geschlossen bleiben. Der dagestanische Republikchef Sergej Melikow verurteilt die Gewalt gegen die Passagiere. An Bord sollen 45 Menschen gewesen sein, darunter 15 Israelis. Es seien Frauen mit Kindern, die in Israel zu medizinischen Behandlungen gewesen seien, grundlos beschimpft und angegriffen worden, sagte Melikow.
Es handelt sich um keinen Einzelfall. Im Nordkaukasus gibt es wieder Pogrome wie im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts. Bereits am Samstag griff eine Menge aufgebrachter Muslime ein Hotel in der Stadt Chassawjurt in Dagestan an – angeblich seien dort Flüchtlinge aus Israel untergebracht. Nach örtlichen Berichten drangen mehrere Dutzend Männer in das Hotel ein, um die Pässe der Hotelgäste zu kontrollieren. Die Polizei riegelte das Hotel ab.
In Naltschik (Teilrepublik Kabardino-Balkarien) gab es einen Brandanschlag auf ein im Bau befindliches jüdisches Kulturzentrum. Das Gebäude wurde zudem mit Parolen wie „Tod den Juden“ beschmiert. In der Teilrepublik Karatschajewo-Tscherkessien riefen Demonstranten dazu auf, die örtliche jüdische Bevölkerung auszusiedeln.
Verschärft wird die Lage dadurch, dass die Evakuierungsflüge für russische Staatsbürger aus Tel Aviv ausgerechnet im muslimisch geprägten Nordkaukasus landen, nämlich auf den Flughäfen Machatschkala, Mineralnyje Wody und Sotschi. Die russischen Muslime solidarisieren sich im Gaza-Krieg mit den Palästinensern.
Der Kreml schiebt die Schuld auf den Westen. Die Ereignisse Machatschkala seien nicht zuletzt von ukrainischem Gebiet aus inspiriert worden, „durch die Hände westlicher Geheimdienste“, sagte Wladimir Putin am Montagabend bei einer Sitzung zur Sicherheitslage Russlands. Belege dafür legte er nicht vor. Die Ukraine wies die russischen Vorwürfe zurück. Die Vorgänge spiegelten vielmehr „den tief verwurzelten Antisemitismus der russischen Eliten und Gesellschaft wider“, sagte Oleh Nikolenko, der ukrainische Außenamtssprecher.