München – Eigentlich hat die Türkei etwas zu feiern. Doch auf dieser Veranstaltung herrscht blanke Wut. Hunderttausende Türken haben sich am Wochenende in Istanbul versammelt, um ihrem Präsidenten zuzuhören. Es ist der Vorabend des 100. Jahrestags der Republik. Recep Tayyip Erdogan spricht mit zorniger Miene zu seinem Volk. „Der Hauptschuldige an dem Massaker, das sich in Gaza abspielt, ist der Westen“, ruft er. Israel sei eine „Schachfigur“ des Westens.
Die Worte hallen nach. Eigentlich wird der türkische Präsident für einen Staatsbesuch in Berlin erwartet. Ein konkretes Datum ist noch nicht bekannt – anvisiert ist die zweite November-Hälfte. Eingeladen hat ihn der Kanzler offiziell bereits im Frühjahr. Nun äußern einige Politiker Bedenken, ob man Erdogan nach seiner Hetze noch in Deutschland willkommen heißen sollte. „Wenn Deutschland noch etwas Selbstachtung hat, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, Erdogan auszuladen“, sagt etwa Johannes Winkel, Chef der Jungen Union. „Die viel beschworene Staatsräson verkommt sonst zum Kalenderspruch.“ Ähnlich äußert sich Konstantin Kuhle, Vize-Fraktionschef der FDP: „Eine Reise des türkischen Präsidenten nach Deutschland wäre zum jetzigen Zeitpunkt höchst problematisch.“
Seine Parteikollegin Marie-Agnes Strack-Zimmermann findet es zwar auch fraglich, ob „jetzt der richtige Augenblick“ für eine Einladung ist. Trotzdem dürfe man nicht mit dem Präsidenten brechen, sagt die Verteidigungsexpertin gegenüber unserer Zeitung. „Wir sollten, auch wenn es schwerfällt, auf lange Sicht mit der Türkei im Gespräch bleiben. Erdogan hat nun mal Einfluss im Nahen Osten.“
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder warnt vor einer aufgeheizten Stimmung in Deutschland. „Jeder Angriff auf jüdisches Leben ist ein Angriff auf uns alle“, sagt der CSU-Chef. „Gleichzeitig ist aber wichtig: Bei der Verurteilung des Hamas-Terrors dürfen wir nicht generell Muslime bei uns unter Verdacht stellen.“ Er appelliert, sich vom Terror der Hamas zu distanzieren – es sei wichtig, „den Frieden im eigenen Land“ zu schützen.
Die Berliner Polizei ist bereits in Alarmbereitschaft. Am 18. November findet im Olympiastadion das Länderspiel zwischen Deutschland und der Türkei statt. Bislang ist zwar unklar, ob der türkische Präsident zu dem Zeitpunkt überhaupt in der Hauptstadt sein wird und ob es sich bei dem Besuch um einen offiziellen Staatsbesuch handeln würde. Dennoch fürchtet Gewerkschaftssprecher Benjamen Jendro bereits jetzt einen Großeinsatz der Polizei. „Sehr geehrter Bundeskanzler, könnten Sie Erdogan bitten, das zuhause vorm Fernseher zu schauen?“, schreibt er auf der Plattform X.
Macit Karaahmetoglu, Präsident der Deutsch-Türkischen Gesellschaft und SPD-Bundestagsabgeordneter, glaubt nicht daran, dass Erdogan die türkische Community in Deutschland gegen den Westen aufhetzen kann. „Auch die Erdogan-Anhänger in Deutschland wissen, wie er taktiert – dass er heute das eine sagt und morgen etwas ganz anderes macht“, sagt er. Seine Aussagen hätten keinen „allzu großen Effekt“ auf die Stimmung in Deutschland. Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass viele türkischstämmige Menschen in Deutschland schon vor dem Angriff der Hamas am 7. Oktober der Meinung waren, „dass Israel mit seiner Siedlungspolitik nicht an Frieden interessiert ist“.
Der türkischstämmige Politiker plädiert dafür, im Dialog zu bleiben. Erdogans Aussagen zur Hamas seien „skandalös“, meint Karaahmetoglu. „Aber es ist auch wichtig, dass wir in der aktuellen Lage nicht aus dem Bauch heraus Entscheidungen treffen, sondern mit Verstand handeln: Wir müssen jeden Kanal nutzen, um eine Eskalation zu verhindern.“ Deutschland müsse bei seinem Besuch auf ihn einwirken, um einen Flächenbrand zu vermeiden.