München – Man kann Joe Biden sicher viel anlasten, aber gleich alles? „Das Chaos, das wir auf der ganzen Welt und auch zu Hause sehen, ist eine Projektion seiner Schwäche“, sagte Virginias Gouverneur Glenn Youngkin am Sonntag dem US-Sender ABC, um dann all jene Missstände aufzuzählen, für die er den Präsidenten verantwortlich macht: Israel, die Ukraine, Inflation, die Migrationsfrage. „Biden schläft im Weißen Haus. Ich wünschte, er täte es nicht.“
Als Republikaner ist Youngkin (56) qua Parteizugehörigkeit scharfer Biden-Gegner. Doch das Gefühl, der Amtsinhaber sei der schieren Wucht und Menge an Aufgabe nicht mehr gewachsen, ist im Land verbreitet. Profiteur ist sein mutmaßlicher Herausforderer Donald Trump. Laut einer Umfrage der „New York Times“ und des Siena College liegt er aktuell in fünf von sechs besonders umkämpften Staaten klar vor Biden. Die so- genannten Swing States sind oft wahlentscheidend.
Nevada, Arizona, Georgia, Michigan und Pennsylvania – überall dort würde Trump gewinnen, teils mit gut zehn Prozentpunkten Vorsprung. Dass Biden immerhin in Wisconsin knapp die Nase vorne hat, dürfte die Stimmung kaum heben: 2020 gewann er in allen sechs Staaten, jetzt verliert er dramatisch.
Zwar findet die Wahl erst in einem Jahr statt – in der Politik, gerade der US-amerikanischen, ist das eine Ewigkeit. Bidens Kampagnen-Sprecher Kevin Munoz sagte CNN, man arbeite schon hart daran, „unsere diverse, siegreiche Wählerkoalition zu mobilisieren“, um 2024 zu gewinnen.
Allein: Genau jene Wählerkoalition, die 2020 eine zweite Trump-Amtszeit verhinderte, bricht offenbar auseinander. Bei den unter 30-Jährigen ist Bidens Vorsprung nur hauchdünn, auch bei Schwarzen und Latinos verliert er an Zustimmung. In allen Wählerschichten herrscht eine tief liegende Unzufriedenheit, eine Mehrheit hat das Gefühl, Bidens Politik habe ihnen persönlich geschadet. Sein größtes Problem liegt aber außerhalb der Politik: 71 Prozent der Befragten halten den 80-Jährigen für zu alt, sogar 54 Prozent seiner Unterstützer sehen das so. Trump, nur drei Jahre jünger, ist nur für 39 Prozent zu alt.
Auch bei den Demokraten ist man sich des Problems bewusst. Gewänne er noch mal, wäre er am Ende seiner zweiten Amtszeit 86 Jahre alt. Ob die Fitness im neunten Lebensjahrzehnt für dieses Amt noch ausreicht? Die Befragten trauen Biden jedenfalls in wichtigen Politikfeldern wie Außenpolitik und Migration weniger zu als Trump. Das Gleiche gilt für die US-Wirtschaft – und das, obwohl die dank Bidens Investitionsprogramm boomt.
Der frühere Wahlkampfchef von Barack Obama, David Axelrod, mahnt: „Wenn Joe Biden weitermacht, wird er der Kandidat der Partei sein. Aber er muss sich entscheiden, ob das weise wäre.“ Biden müsse sich die Frage stellen: „Dient eine Kandidatur seinem eigenen Interesse oder dem Interesse des Landes?“ Eine ernsthafte Alternative zu ihm ist aber nicht in Sicht. Die Alternativlosigkeit quält im Übrigen auch die US-Wähler. Biden mag unbeliebt sein – Trump, der sich in diversen Verfahren vor Gericht verantworten muss, ist es aber auch.
Vielleicht kann sich der Amtsinhaber dennoch ein wenig trösten: Vor den Zwischenwahlen im vergangenen Jahr sah es für die Demokraten auch übel aus – dann schnitten sie weit weniger schlecht ab, als es die Prognosen vorhersagten. In einem Jahr kann die Welt schon ganz anders aussehen.