Palästinenser fürchten zweite Vertreibung

von Redaktion

VON S. LEMEL, E. DRIMLY UND J. SADEK

Gaza/Tel Aviv – Dalal al-Nadschi hat die „Nakba“ als Kind miterlebt. Die Katastrophe, wie Palästinenser die Flucht und Vertreibung Hunderttausender während des Kriegs im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948 nennen. Die heute 86-Jährige aus Dair al-Balah im Gazastreifen erzählt, sie sei damals mit ihren Eltern und ihren beiden Geschwistern von ihrem Geburtsort Dschulis rund 30 Kilometer nordöstlich von Gaza bis in den heutigen Gazastreifen zu Fuß gelaufen. In Dschulis blieben fast nur Ruinen zurück, heute liegt der Ort im israelischen Kernland. So nah und doch so fern.

Seit der Flucht in ihrer Kindheit hat die Mutter von fünf Kindern noch viele blutige Kriege miterlebt. Der jetzige sei jedoch „der schlimmste von allen“, sagt die alte Frau. Sie hat Angst, dass Israel die Palästinenser im umkämpften Gazastreifen zwingen könnte, nach Ägypten zu fliehen – Angst vor einer zweiten „Nakba“.

Israel betont, die Evakuierung der mehr als einer Million Einwohner des nördlichen Teils des Küstenstreifens sei zu ihrer eigenen Sicherheit. Offiziell sagt Israel auch, es wolle den Gazastreifen nicht dauerhaft wiederbesetzen, sondern nur die Herrschaft der Hamas-Terroristen beenden. Diese könne nach dem blutigen Massaker am 7. Oktober an mehr als 1400 Israelis nicht mehr geduldet werden. Doch radikale Äußerungen israelischer Politiker heizen die Ängste vieler Einwohner von Gaza an. Ariel Kallner, ein Abgeordneter der rechtskonservativen Likud-Partei, forderte am Tag des Massakers: „Eine Nakba für den Feind, sofort!“ Eine „neue Nakba, die jene von 48 noch in den Schatten stellt“.

Auch angebliche Ideen, Flüchtlinge aus dem Gazastreifen vorübergehend im Nord-Sinai in Ägypten unterzubringen, beleben bei Palästinensern ein Trauma neu, das Generationen überspannt. Während der „Nakba“ 1948 flüchteten 700 000 Menschen aus dem historischen Palästina, das zuvor unter britischem Mandat stand. Hunderttausende weitere folgten im Sechstagekrieg 1967, heute als „Naksa“ (Rückschlag) bezeichnet. Heute ziehen palästinensische Familien den „Korridor“ für Evakuierungen entlang, den Israels Armee in Gaza für Zivilisten eröffnet hat – nach UN-Angaben allein seit Sonntag etwa 72 000 Menschen. Israel setze seine „Zwangsvertreibung“ fort, schrieb die staatliche ägyptische Nachrichtenseite „Al-Ahram“.

Für Ägypten, das den einzigen nicht-israelischen Grenzübergang nach Gaza kontrolliert, ist das Flüchtlings-Szenario mit vielen Sorgen verknüpft. Die Sicherheitslage im Sinai ist nach Kämpfen gegen Extremisten weiter angespannt. Staatschef Abdel Fattah al-Sisi dürfte – kurz vor einer Präsidentenwahl in Ägypten – auch kaum als Unterstützer dastehen wollen, wenn die „palästinensischen Brüder“ erneut ihre Heimat verlassen müssen. In Jordanien, dem Libanon und Syrien, wo viele der fast sechs Millionen registrierten palästinensischen Flüchtlinge leben, gibt es weder politischen Willen noch Kapazitäten für weitere Aufnahmen.

Das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge UNRWA versorgt heute 5,9 Millionen Palästinenser. Der Status dieser Menschen, die über die Nachbarländer verstreut sind, ist wohl die am längsten ungeklärte Flüchtlingsfrage der modernen Geschichte. Insgesamt bilden sie die größte Gemeinde derjenigen Menschen, die als staatenlos gelten oder deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist. Von einer Lösung ist man weiter entfernt denn je.

Artikel 10 von 11