Berlin – Knapp vier Jahre ist es her, doch die damalige Gästeliste wäre heutzutage unvorstellbar. Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im Januar 2020 das letzte Mal nach Berlin reiste, war dies anlässlich der Libyen-Konferenz. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) empfing ihn, mit am Tisch: Russlands Präsident Wladimir Putin.
Nun, am kommenden Freitag, kommt Erdogan wieder nach Berlin. Der schwammige Arbeitstitel vorab: Kanzler Olaf Scholz (SPD) wolle eine „Bandbreite politischer Themen“ mit dem türkischen Präsidenten besprechen. Also alles, was die deutsch-türkische Beziehung betrifft und auch belastet: Krieg in Nahost, Krieg in der Ukraine, Begrenzung der Migration und Integration. Nichts davon kann so richtig getrennt voneinander betrachtet werden, wohl auch deswegen ist die Rede von einer „Bandbreite“.
Medial ist man sich einig: Es wird ein „heikles Treffen“, für Scholz ein „Balanceakt“. Die Beziehung der beiden Länder ist angespannt. Die Haltungen zu aktuellen Konflikten uneins. Der Gaza-Krieg wirkt auf das deutsch-türkische Verhältnis wie ein Brennglas.
Erdogan selbst bezeichnete die Terrororganisation Hamas als „Freiheitskämpfer“ und beschuldigte den Westen, einen „Krieg zwischen Kreuz und Halbmond“ anzuzetteln. Fronten, die mittlerweile auch in Deutschland spürbar sind: Moscheeverbände, die sich nicht klar gegen den Hamas-Terror positionieren, Antisemitismus unter dem Deckmantel pro-palästinensischer Demos. Die deutsche Integrations- und Religionspolitik steht auf dem Prüfstand. „Wir brauchen eine religionspolitische Zeitenwende“, fordert Eren Güvercin, Islamexperte und Mitglied der Deutschen Islam Konferenz, gegenüber unserer Zeitung.
Im Fokus steht vor allem der deutsch-türkische Islamverband Ditib. Die etwa 1000 Imame des Dachverbandes in Deutschland sind türkische Beamte und werden von der türkischen Religionsbehörde Diyanet bestimmt. Ali Erbas, Chef der Religionsbehörde, hatte sich antiisraelisch geäußert. Zuletzt bezeichnete er Israel als „rostigen Dolch im Herzen der islamischen Geografie“. Güvercin sagt dazu: „Seit dem 7. Oktober ist es deutlicher denn je, dass die bisherige Strategie von ,Wandel durch Nähe‘ im Umgang mit der Ditib gescheitert ist.“
Ditib müsse sich personell, strukturell und finanziell vom türkischen Staat lösen, sagt Güvercin. „Es kann nicht sein, dass die Diyanet und damit der türkische Staat das muslimische Leben in Deutschland mehr gestaltet als wir deutschen Muslime und unsere Bundesregierung.“ In vielen Bundesländern hat der Ditib-Moscheeverband Einfluss auf den Islamunterricht. FDP und Grüne stellen eine weitere Zusammenarbeit infrage. Die Union kritisiert die Finanzierung aus der Türkei. „Selbst mit deutschem Steuergeld einzuspringen, wäre besser“, sagt CDU-Politiker Jens Spahn.
Das Treffen von Scholz und Erdogan ist ein integrationspolitischer Balanceakt. Nicht jeder Muslim oder türkisch-stämmige Bürger in Deutschland unterstützt Erdogan und seinen Israel-Kurs. Der Kanzler muss „in aller Deutlichkeit kommunizieren, dass wir uns für die große türkische Community in Deutschland verantwortlich fühlen“, sagt Serap Güler (CDU) unserer Zeitung. Es seien nicht Erdogans Bürger und er sei auch nicht ihr großer Bruder.
Bei seiner Einladung im Mai wusste Scholz noch nicht, in welch aufgeheiztem Berlin er seinen Gast empfangen wird. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) Berlin teilt auf Anfrage mit, dass die Sicherheitslage davon abhänge, „was Herr Erdogan rund um den Besuch von sich gibt“. Mit Blick auf die Lage in Nahost, einer großen pro-palästinensischen Community in Berlin und dem Fußball-Länderspiel gegen die Türkei, rechnet die Polizei mit einem „Mammuteinsatz“, sagt GdP-Sprecher Benjamin Jendro.
Die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Ex-Linke) fordert, Erdogan auszuladen. Auch Güler hält Erdogans Besuch in Anbetracht seiner Hamas-Äußerungen für „besonders schwierig“. Eine Ausladung sei aber das falsche Signal. „Realpolitik bedeutet eben auch, zu unbequemen Zeiten mit unbequemen Partnern reden zu müssen.“