Gaza/Tel Aviv – Dieser Mann steht ganz oben auf Israels Abschussliste: der Chef der Hamas im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar. Der 61-Jährige sowie alle anderen für das Massaker am 7. Oktober Verantwortlichen seien dem Tod geweiht, sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Sinwar gilt gemeinsam mit Mohammed Deif, Kommandeur des bewaffneten Arms der Terrororganisation Hamas, als Planer des Überraschungsangriffs, bei dem rund 1200 Israelis getötet wurden.
Sinwar, ein drahtiger, bärtiger Mann mit kurzgeschorenem weißen Haar, buschigen dunklen Augenbrauen und markanten Zügen, gehört zur Gründergeneration der Hamas. Geboren wurde er 1962 im Flüchtlingslager von Chan Junis im Süden des Gazastreifens. Seine Familie stammt aus der Gegend der Küstenstadt Aschkelon, heute auf israelischem Staatsgebiet.
Die Hamas formierte sich während des ersten Palästinenseraufstands Intifada Ende der 1980er im Kampf gegen die israelische Besatzung. Sinwar war auch am Aufbau des militärischen Hamas-Arms, der Kassam-Brigaden, beteiligt. Nach Beginn des Friedensprozesses zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO verübte die Hamas über Jahre blutige Selbstmordanschläge in Israel.
Sinwar war in den Anfangsjahren der islamistischen Bewegung für den Kampf gegen mutmaßliche Kollaborateure mit Israel in den eigenen Reihen zuständig. Dabei ging er so brutal vor, dass er als „Schlächter von Chan Junis“ bekannt wurde. Wegen des Mordes an vier Kollaborateuren und zwei israelischen Soldaten wurde Sinwar 1988 von Israel verurteilt. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in israelischer Haft. Diese Zeit nutzte er, um Hebräisch zu lernen und den Feind zu studieren. Er las systematisch Bücher über prominente zionistische und israelische Persönlichkeiten, darunter auch die früheren Regierungschefs Menachem Begin und Izchak Rabin. Ziel sei es gewesen, ein tiefes Verständnis der israelischen Gesellschaft zu gewinnen, im Sinne von „Kenne deinen Feind“.
Im Verhör durch den Inlandsgeheimdienst Schin Bet 1989 beschrieb Sinwar, wie er die vier Palästinenser jeweils mit eigenen Händen ermordet hatte. Einen von ihnen habe er nach dessen Entführung auf einen Friedhof gebracht. „Ich habe ihm die Augen verbunden, ihn in ein offenes Grab getan und mit einem Tuch erwürgt“, sagte Sinwar laut Verhörprotokoll. Anschließend habe er das Grab zugeschüttet.
Während seiner Zeit im Gefängnis habe Sinwar sich bereits als Führungspersönlichkeit positioniert und Morde an Häftlingen in Auftrag gegeben, sagt Professor Kobi Michael vom israelischen Institut für Nationale Sicherheitsstudien. Er beschreibt Sinwar als „grausame, psychopathische Persönlichkeit“, jedoch gleichzeitig als intelligent, sehr charismatisch und stark. Während seiner Haft war Sinwar wegen eines Hirnabszesses in Lebensgefahr, israelische Ärzte retteten demnach mit einer Operation sein Leben. 2011 kam Sinwar frei – als einer von mehr als 1000 palästinensischen Häftlingen im Gegenzug für den israelischen Soldaten Gilad Schalit.
Das Massaker am 7. Oktober sieht der palästinensische Journalist und Hamas-Kenner Mohammed Daraghmeh als Versuch Sinwars, mit dem Einsatz extremer Gewalt „den Spieß umzudrehen“. Er habe einen Punkt erreicht, „an dem er dachte, dass Israel den Palästinensern nie einen Staat geben wird, der Westen die Hamas niemals anerkennt.“ Innerhalb des Gazastreifens sei angesichts der wirtschaftlichen Krise die Unzufriedenheit der Bevölkerung immer größer geworden. „Alle haben geklagt, wer Gaza verlassen konnte, hat Gaza verlassen.“ Die Hamas sei international isoliert gewesen, gleichzeitig gab es eine Annäherung Israels an Saudi-Arabien.
Doch Sinwar hat sich verkalkuliert, sagt Daraghmeh. „Hamas-Kämpfer haben Gräueltaten in israelischen Ortschaften begangen, die Weltöffentlichkeit war auf Israels Seite und die Amerikaner haben Flugzeugträger in die Region geschickt.“ Sinwar habe auch mit mehr Unterstützung der libanesischen Hisbollah-Miliz und des Irans gerechnet. Nun steht Israel in Gaza – und die Hamas kämpft ums Überleben.