Augsburg – Linken-Chef Martin Schirdewan gab sich sehr zufrieden am Sonntagmorgen: Programm zur Europawahl verabschiedet, Kandidatenteam aufgestellt, Kampagne zur Erneuerung der Partei gestartet – und fast niemand, der beim Parteitag der Linken in Augsburg noch den Namen Sahra Wagenknecht erwähnt hätte. „Das interessiert hier einfach niemanden mehr“, sagte Schirdewan. Dann eilte der 48-Jährige durch die Messehalle zur nächsten Live-Schalte.
Knapp vier Wochen nach dem Bruch mit ihrer früheren Ikone Wagenknecht und kurz nach dem Beschluss zur Auflösung ihrer Bundestagsfraktion hat die Linke also ein Lebenszeichen von der Intensivstation gefunkt. Schirdewan gab sich im Phoenix-Interview sogar sicher: „Wir werden gestärkt aus diesem Prozess hervorgehen.“
Die mehr als 400 Delegierten wollten das nur zu gerne glauben. Sie jubelten ihren Europa-Kandidaten zu, darunter neben Schirdewan die ehemalige Seenotretterin Carola Rackete und der Mainzer Arzt Gerhard Trabert. Die Genossinnen und Genossen bestätigten sich gegenseitig, dass die Linke mehr denn je gebraucht werde.
Die Parteispitze wirbt gezielt um junge Linke in der Klimabewegung oder der Flüchtlingshilfe und um Menschen, die von SPD und Grünen enttäuscht sind. Eine Rolle spielt dabei: Bei der Europawahl im Juni 2024 gilt erstmals das Wahlalter 16.
Euphorie stiftete in Augsburg der 67-jährige Trabert, wie Rackete ebenfalls parteilos, der „Arzt der Armen“, der schon für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Mit einer umjubelten Rede gegen Stigmatisierung angeblich „sozial Schwacher“ schaffte Trabert bei der Wahl zum Europa-Listenplatz vier das beste Ergebnis des Parteitags. Die Linke stellte insgesamt 20 Kandidatinnen und Kandidaten auf, obwohl 2019 bei einem Stimmanteil von 5,5 Prozent nur fünf Mandate drin waren.
Alles zusammen – soziales Gewissen, linker Idealismus und der Verdruss über die Ampel-Parteien – sollte für fünf Prozent Stimmanteil reichen, so ist die Erwartung der Linken-Spitze. Gelingt das bei der Europawahl, könnte es bei den Landtagswahlen 2024 und der nächsten Bundestagswahl weitergehen – und der Plan 2025 für ein Comeback wäre aufgegangen.
Mut machen sich Schirdewan und Co-Vorsitzende Janine Wissler damit, dass seit Wagenknechts Ausstieg 700 Menschen in die Partei eingetreten seien und viel weniger ausgetreten. Allerdings dürfte die angekündigte Auflösung der Linksfraktion im Bundestag der Partei politische Schlagkraft nehmen. Es lauert noch eine andere Tücke: Am 19. Dezember verkündet das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur Wiederholung der Bundestagswahl 2021 in Berlin.
Das Schreckensszenario für die Linke: Die Pannenwahl muss komplett wiederholt werden, und die Partei verliert eines ihrer beiden Berliner Direktmandate. Die Linke war 2021 nur über eine Sonderklausel wegen des Gewinns von drei Direktmandaten mit 39 Abgeordneten ins Parlament gekommen. Ist ein Direktmandat futsch, verlieren die 36 Abgeordneten ihren Sitz. Darunter ist übrigens auch Sahra Wagenknecht. dpa