„Ich bin mit mir und Gott im Reinen“

von Redaktion

VON CLAUDIA MÖLLERS

Bielefeld – Die Stimme von Annette Kurschus zittert, aber sie bricht nicht. „Sehr traurig, aber getrost und sehr aufrecht“ hat die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gestern in Bielefeld ihren Rücktritt erklärt. Auch ihr Amt der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen verlässt sie. Zu stark war der öffentliche Druck, der seit einer Woche von Tag zu Tag zunahm.

Begonnen hatte alles mit einem Bericht der „Siegener Zeitung“, in dem kurz vor der EKD-Synode zwei Männer zitiert worden waren, die Kurschus bereits in den 1990er-Jahren detailliert über Missbrauchsvorwürfe gegen einen Kirchenmitarbeiter informiert haben wollen. Der Mann, dem heute sexuell übergriffiges Verhalten vorgeworfen wird, ist für Annette Kurschus kein Unbekannter. Er ist der Mann einer Freundin, der Vater ihres Patenkindes. Kurschus, die – so beteuert sie – niemals Dienstvorgesetzte des jetzt pensionierten Mannes war, hatte auf der Synode nicht gleich die Verbindungen zu der Familie offengelegt. Sondern erst nur erklärt: „Die Person kenne ich in der Tat aus meiner früheren Zeit in Siegen. Das ist klar: In Siegen kennt jeder jeden.“

Von sexualisierter Gewalt in Zusammenhang mit dem Mann habe sie nichts gewusst, betont Kurschus gestern in ihrer achtminütigen Erklärung. Die 60-Jährige, die die Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt bei Amtsantritt vor zwei Jahren zur „Chefinnensache“ gemacht hatte, musste erkennen, dass sich die Lage so zugespitzt hatte, „dass es für mich nur eine Konsequenz gibt, um Schaden von meiner Kirche abzuwenden: Ich trete von beiden kirchlichen Leitungsämtern zurück.“ Von einem geschürten Konflikt spricht sie. Und kämpft mit den Tränen, als sie betont: „Ich habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.“ Sie trete zurück, weil sie den Konflikt zwischen Betroffenen sexualisierter Gewalt und sich als Amtsträgerin nicht in der Öffentlichkeit austragen wolle. Weil sie die Erfolge in der Aufarbeitung, die man mit Betroffenen errungen habe, nicht gefährden wolle. Dass ihr vorgehalten wird, nur ihre eigene Haut retten zu wollen, hat sie sichtlich getroffen. Das Einzige, was sie eingesteht, ist: „Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, so geschult und so sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden. Ich habe allein Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen.“ Und: „Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen.“ Was wirklich vor 30 Jahren geschehen ist, bleibt unklar. Laut der Ermittlungsbehörde in Siegen gibt es keine Hinweise auf körperliche Gewalt. Auch gebe es keinen Hinweis, dass Minderjährige betroffen gewesen sein könnten.

Christian Kopp, bayerischer Landesbischof, bedauert den Rücktritt. „Sie ist ausgesprochen vertrauensvoll und zugewandt, ein Vorbild an Lauterkeit.“ In so einem Fall stehe Aussage gegen Aussage – da helfe es nur, dass Dritte ermitteln. Frauen haben es offensichtlich besonders schwer in Leitungsämtern in der evangelischen Kirche. Die Gedanken gehen zurück an die erste Frau als EKD-Ratsvorsitzende, an Margot Käßmann, die 2010 wegen einer Alkoholfahrt zurückgetreten war. „Ich finde es unglaublich bedauerlich, dass es jetzt zwei Frauen sind, noch dazu zwei so hoch Kompetente, die aus unterschiedlichen Gründen als Ratsvorsitzende zurückgetreten sind“, sagte Kopp.

Auch Susanne Breit-Keßler, die ehemalige Regionalbischöfin von München und Oberbayern, zeigte sich betroffen. Sie bezeichnete Kurschus als eine Theologin von großer spiritueller Kraft, als „eine Frau der leisen Töne, die gerade deswegen umso gewichtiger sind“. Die Art ihres Rücktritts sei sehr glaubwürdig. Frauen zeigten sehr viel deutlicher als Männer, dass sie in der Lage seien, Konsequenzen zu ziehen. „Das würde man sich in manchen Bereichen der Gesellschaft wünschen: zu prüfen, ob das nicht auch für Männer ein Weg wäre.“ Wie Margot Käßmann werde auch Annette Kurschus dadurch an Autorität gewinnen, ist sich Susanne Breit-Keßler sicher.

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