Kiews Kampf um seine verschleppten Kinder

von Redaktion

In tausenden Fällen wurden ukrainische Kinder von den Eltern getrennt – ihre Rückführung ist mühsam

Kiew – Wenn Olha Lopatkina über die Zeit spricht, in der sie von ihren Adoptivkindern getrennt war, stockt ihre Stimme immer wieder. Kurz vor dem Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 schickte die heute 42-Jährige sechs ihrer neun Kinder im Alter von sieben bis 17 Jahren aus dem ostukrainischen Städtchen Wuhledar in ein Erholungslager bei Mariupol am Asowschen Meer. Dann kam der Krieg – und die Front trennte Mutter und Kinder. Wuhledar blieb unter Kontrolle der ukrainischen Armee, Mariupol fiel unter russische Besatzung. Lopatkina sah ihre Kinder fast fünf Monate lang nicht.

Heute weiß Lopatkina: Nach ihrem Einmarsch in Mariupol verschleppten russische Besatzungsbeamte mit Hilfe der Armee ihre Kinder zusammen mit anderen Minderjährigen ins besetzte Donezk. Dort wurden sie in einer Klinik für Tuberkulosekranke untergebracht. „Die Zustände waren furchtbar“, sagt sie. Die Verpflegung sei teilweise so schlecht gewesen, dass die Kinder nachts hätten Essen stehlen müssen. Und es sei ein Wunder, dass niemand sich mit Tuberkulose angesteckt habe.

Die Verhandlungen der in der Zwischenzeit in die EU geflohenen Ziehmutter mit örtlichen Besatzungsbeamten zur Rückgabe ihrer Kinder aus Donezk dauerten mehrere Monate. Dabei stemmte sich nach Lopatkinas Darstellung vor allem die lokale „Kinderbeauftragte“ der Besatzer vehement gegen die Rückführung. Erst im Juni 2022 – als die Funktionärin kurzzeitig verreiste – hätten andere Beamte der Freigabe zugestimmt. Mit Hilfe einer ukrainischen Hilfsorganisation und einer lokalen Helferin konnten die Kinder schließlich in Donezk abgeholt werden. In Berlin wurden sie mit ihrer Ziehmutter wiedervereint. Heute lebt die Familie in Frankreich.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch haben immer wieder die Verschleppung ukrainischer Minderjähriger auf russisches Staatsgebiet beklagt. Teils handelte es sich demnach um Waisenkinder, teils wurden Eltern nach Angaben der ukrainischen Kinderrechtsbeauftragten Darja Herassymtschuk von den Russen überredet, ihre Kinder in ein Ferienlager nach Russland zu schicken. Die Minderjährigen sollen danach nicht mehr zurückgekehrt sein.

Im September warf der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei der UN-Generaldebatte in New York Russland einen Völkermord an der Ukraine durch „massenhafte Entführung und Verschleppung“ von Kindern vor. Der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag hat Haftbefehle gegen Wladimir Putin und seine Kinderbeauftragte Maria Lwowa-Belowa erlassen. Russland weist die Vorwürfe zurück und betont, sie würden lediglich vor der Gewalt im Kriegsgebiet geschützt

Lopatkinas Beispiel bleibt eine seltene Erfolgsgeschichte. Seit Kriegsbeginn identifizierte die ukrainische Regierung bis Oktober knapp 20 000 Kinder, die nach Russland oder in russisch besetzte Gebiete gebracht worden seien. Die Dunkelziffer wird deutlich höher geschätzt. Von allen Verschleppten konnten bisher lediglich 386 Kinder nach ukrainischen Regierungsangaben zurückgeholt werden. ANDREJ SCHENK

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