Berlin – Der Bericht des Normenkontrollrats ist ernüchternd: Die Lasten durch Bürokratie haben ein Rekordniveau erreicht. Professor Jörg Bogumil vom Lehrstuhl für öffentliche Verwaltung an der Ruhr-Universität Bochum erklärt im Interview, an welchen Stellschrauben jetzt gedreht werden muss.
Herr Professor Bogumil, in welchen Bereichen belastet Bürokratie den einzelnen Bürger am meisten?
Unsere Sozialgesetzgebung ist ein richtiges Bürokratiemonster. Die Anträge für das Bürgergeld, Elterngeld oder Wohngeld sind extrem kompliziert und bürgerunfreundlich – mit Nachweispflichten, bei denen man doppelt und dreifach etwas liefern muss.
Und Unternehmen?
Die ganzen Informations- und Nachweispflichten sind realitätsfremd. Firmen müssen zum Beispiel die Temperatur in ihren Kühlschränken dokumentieren. Oder: Wenn man im Hotel eincheckt, füllt man als Gast einen Zettel aus. Diesen Zettel mussten Hotels bislang mehrere Jahre aufbewahren.
Warum sind wir so „regelwütig“?
Immer wenn der Staat mehr eingreift, entstehen mehr Regeln und damit mehr Bürokratie. Und wir kreieren immer neue Politikfelder, auch sinnvolle wie Klimaschutzpolitik oder Verbraucherschutzpolitik. Aber das bringt auch neue Regeln mit sich.
Kann man Regeln nicht regulieren?
Wir haben versucht Regeln abzubauen, indem Kommissionen gegründet wurden. Darin wurde aber festgestellt: Es bringt nichts, weil wir trotzdem immer neue Regeln aufbauen.
Was hilft dann?
Regeln müssen einfacher werden. Das heißt, nicht jeder Einzelfall muss bis ins Detail geprüft werden. Zum Beispiel bei Genehmigungen könnte man auch einfach sagen: Wenn innerhalb eines halben Jahres keine Stellungnahme eingeht, gilt etwas als genehmigt. Damit werden Regeln entkompliziert.
Wird das auch gemacht?
Eines beachten Politik und Verwaltungen bislang kaum: Die Mitarbeiter in deutschen Verwaltungen schauen nur, dass ihre Ergebnisse rechtssicher sind – aber nicht problemlösend. Es gibt Ermessensspielräume, die momentan nicht ausgenutzt werden. Übervorsichtiges Handeln in Verwaltungen macht Vorgänge extrem kompliziert. Das führt dann dazu, dass mit einem Aufwand von 1000 Euro geprüft wird, ob jemand zehn Euro mehr bekommt.
Haben EU-Staaten noch mal eine besondere Herausforderung?
Die EU ist für 30 Prozent der Regelungen in Deutschland verantwortlich. Das Problem ist aber, wie wir diese EU-Regeln umsetzen. Deutschland ist da besonders gründlich. Manchmal schaffen wir sogar zusätzliche Nachweispflichten, die nicht notwendig sind.
Also steht Deutschland im internationalen Vergleich wirklich so schlecht da?
Bezogen auf die Bürokratie: Ja. Es gibt andere Länder, die ähnlich bürokratisch sind. Frankreich zum Beispiel. Aber Länder in Skandinavien sind deutlich besser aufgestellt – auch weil sie besser digitalisiert sind.
Baut Digitalisierung die Bürokratie ab?
Nur wenn sie gut gemacht ist. Aber bei der Digitalisierung hinken wir hinterher. Deutschland hat zu spät angefangen und zu sehr nur auf Online-Formulare gesetzt. Oft sind diese Formulare nicht an die eigentlichen Fachverfahren angebunden oder es gibt unterschiedliche Softwaresysteme zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Hat die Ampel bisher alles getan, um Bürokratie abzubauen?
Sie hat bereits einige gute Maßnahmen eingeführt, damit zum Beispiel Genehmigungen nicht mehr so kompliziert laufen. Auch bei der Digitalisierung wird viel nachgeholt. Aber alle Regierungen müssen grundsätzlich darauf achten, dass ihre Gesetze anwenderfreundlicher werden. Häufig wird zu wenig darüber nachgedacht, wer die Gesetze umsetzt: Das sind nämlich in der Regel die Kommunen und die werden zu wenig miteinbezogen.
Interview: Leonie Hudelmaier