München – Das Dokument war 40 Seiten lang, trug den Codenamen „Jericho-Mauer“ – und skizzierte einen Gefechtsplan der Hamas. Die „New York Times“ hat das Papier nun an die Öffentlichkeit gebracht. Dieser Plan soll bis ins Detail dem Angriff geähnelt haben, den die Terroristen dann am 7. Oktober aus dem Gazastreifen heraus ausführten. Er soll „im vergangenen Jahr“ – also ein Jahr vor dem Angriff – in die Hände israelischer Behörden gelangt und dann in Militär- und Geheimdienstkreisen kursiert sein. Die Einschätzung: zu anspruchsvoll und schwierig für die Hamas. Ein dramatisches Fehlurteil!
Die Veröffentlichungen dürften einer Debatte in Israel neue Nahrung verschaffen, die nach den politisch Verantwortlichen sucht. Das Land war am 7. Oktober völlig von dem Überfall überrascht worden. Dabei starben 1200 Menschen, 200 wurden entführt – einige bis heute. Während israelische Geheimdienste kurz darauf Verantwortung übernahmen, ließ sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nicht dazu hinreißen. Ihm könnten die jüngsten Veröffentlichungen aber schwer schaden.
Schon vor einigen Tagen hatte die „Financial Times“ über konkrete und detaillierte Warnungen berichtet. So sollen Soldaten, die in der Nähe des Sicherheitszauns stationiert sind, in den Wochen vor der Attacke gewarnt haben. Unter anderem wurde ein Szenario entworfen, dass die Hamas an mehreren Orten Grenzposten in die Luft sprengen könnte, um israelisches Territorium zu betreten. Genau so kam es später. Doch ein hochrangiger Offizier des israelischen Militärgeheimdienstes schlug die Warnungen als unrealistisch in den Wind.
Das deckt sich mit dem Bild, das nun die „New York Times“ skizziert. Das Dokument „Jericho-Mauer“ beschreibt einen methodischen Überfall, bei dem die Befestigungsanlagen um den Gazastreifen überwunden, israelische Ortschaften eingenommen und wichtige Militärstützpunkte, darunter eine Abteilungszentrale, gestürmt werden. Vorgesehen waren Raketenbeschüsse zu Beginn, Drohnen, die die Überwachungskameras und Automatikgeschosse entlang der Grenze ausschalten, sowie Kämpfer, die in Massen mit Fallschirmen, Motorrädern oder zu Fuß nach Israel einfallen – ein Entwurf, dem die Hamas letztlich „mit erschreckender Präzision“ folgte, wie die Zeitung schrieb.
Doch damit nicht genug: Die „Times“ wertete auch E-Mails der Geheimdienste aus. Darin warnte eine Analystin der Decodierungs-Einheit drei Monate vor dem Angriff vor Trainingslagern der Hamas. Diese würden sich auf einen Angriff vorbereiten, wie er im „Jericho-Mauer“-Papier beschrieben worden sei. „Ich widerspreche entschieden, dass das Szenario imaginär ist“, schrieb sie einem Armeeoberst der Gaza-Einheit. „Es ist ein Plan, konzipiert, um einen Krieg anzufangen. Es ist nicht nur ein Überfall auf ein Dorf.“ Doch der Militärkollege blieb bei der Einschätzung, dass die Hamas nicht imstande sei, einen solch umfassenden Plan auszuführen. „Kurz gesagt: Lass uns geduldig abwarten“, hieß es in seiner Antwort.
Die Veröffentlichungen dürften den Druck auf die Regierung Netanjahus erhöhen. Die Debatte läuft ohnehin. Die Zeitung „Haaretz“ schrieb: „Bei der Suche nach den historischen Ursprüngen des Debakels vom 7. Oktober müssen wir zu den Entscheidungen des Premierministers vor einem Jahrzehnt zurückkehren.“ Israels Regierungssprecherin Tal Heinrich wies die jüngsten Enthüllungen nicht zurück. Israel werde das Geschehene genau untersuchen, sagte Tal Heinrich dem Sender CNN stattdessen. Und Netanjahu persönlich? „Wenn es an der Zeit ist, wird er mehr sagen.“ (mit dpa)