München – Ein Saal, drei Tage, 600 Delegierte. Zuletzt gab es so einen Präsenzparteitag bei der SPD Ende 2019, vor Corona, Krieg und Haushaltskrise. Lange her, aber trotzdem erinnerungswürdig: Die Sozialdemokraten wählten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zum Führungsduo in der leisen Hoffnung, sie könnten die in Umfragetief und Groko-Frust darbende Partei wiederbeleben. Überraschenderweise gelang das.
Im Unterschied zu damals ist die SPD jetzt Kanzlerpartei, aber das Level an Verunsicherung ist dem von 2019 doch ziemlich ähnlich. In den Umfragen liegen die Sozialdemokraten bei 14 Prozent, in der von ihnen geführten Ampel herrscht seit gut drei Wochen Ausnahmezustand. Auslöser ist jenes Haushaltschaos, das maßgeblich auf die Kappe des Kanzlers geht, der – so der wiederkehrende Vorwurf – ausgerechnet in dieser Lage keine Orientierung gibt. Vielleicht ja jetzt beim Parteitag?
Scholz’ Rede ist für Samstag angekündigt und die Partei dürfte auf ein paar Antworten hoffen. Gut wäre aus seiner Sicht ein vorzeigbarer Durchbruch in den Gesprächen mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) gewesen. Aber das wird wohl nichts. Immerhin müssen die drei ein 17-Milliarden-Euro-Loch im Haushalt stopfen, was nicht ohne Opfer geht. Jede Seite müsse eine Kröte schlucken, heißt es.
Das Dilemma vor dem Parteitag: Für die SPD könnte das Einsparungen im Sozialbereich bedeuten. Den Preis wollen viele in der Partei aber nicht zahlen. Vom Leitantrag geht denn auch das gegenteilige Signal aus: Er soll das sozialpolitische Profil der SPD stärken. Die Parteispitze fordert etwa eine Einkommensteuerreform, die bis zu 95 Prozent der Bürger entlasten soll. Zahlen sollen die Reichsten in der Gesellschaft. Eine Reform der Erbschaft- und Schenkungsteuer soll dafür sorgen, dass „Multimillionäre und Milliardäre mehr zum Gemeinwohl beitragen“.
Vor allem ein Punkt sticht aus dem Leitantrag heraus: Die SPD-Spitze fordert, dass all jene, die Reichensteuer zahlen, zusätzlich eine „temporäre Krisenabgabe“ entrichten. Wie hoch die sein soll, ist offen. Auch an die Schuldenbremse will man ran. Der Leitantrag nennt sie ein „Standort- und Wohlstandsrisiko“ und fordert eine Reform. Manche an der Basis wollen sie am liebsten gleich ganz abschaffen.
All das mag SPD pur sein, aber jede einzelne Forderung taugt auch als Pulsbeschleuniger für den liberalen Koalitionspartner. Scholz, der nur selten klar Position bezieht, wird nun von einigen in der Partei aufgefordert, sich vor allem mit Blick auf die Haushaltskrise klar zu positionieren. „Wir erwarten von Olaf Scholz, dass er jetzt den Modus wechselt“, sagte Juso-Chef Philipp Türmer dem „Spiegel“. Nämlich vom „Moderator zum Kämpfer für sozialdemokratische Wege aus der Krise“.
Bayerns SPD-Chef Florian von Brunn ist milder mit dem Kanzler. Es sei möglich, dass Scholz sich zur Haushaltkrise äußere, aber keine Pflicht, sagt er. „Die Aufgabe, die er lösen muss, ist schwer genug. Ich hoffe, dass es jetzt gelingt, eine Lösung für dieses Dilemma zu finden.“ Überhaupt rät er, sich auf die Inhalte des Leitantrags zu konzentrieren, es sei „viel Positives“ dabei. Neben dem Genannten plant die SPD etwa ein Sondervermögen Bildung, um Chancen von Kindern aus ärmeren Familien zu erhöhen. Außerdem einen staatlichen Deutschlandfonds, aus dem der klimaneutrale Umbau der Wirtschaft finanziert werden soll. In den Fonds könnte privates Kapital fließen – und kreditfinanzierte Mittel des Staates.
Heute steht zunächst die Wiederwahl der Parteichefs Saskia Esken und Lars Klingbeil an, morgen dann Scholz’ Rede. 10 Uhr, gefolgt von der Aussprache. Die könnte zusätzlich noch von einem ganz anderen Thema geprägt sein: der Migration. Fast 60 Einzelanträge sind zu dem Thema eingegangen, vor allem die Jusos werfen der Scholz-Regierung einen zu straffen kurs vor. Um zu entschärfen, geht die SPD-Spitze nun auf die Jusos zu. Ein Kompromissantrag unterstützt nun die Seenotrettung und einen leichteren Familiennachzug, auch bei Abschiebungen ist der Antrag zurückhaltender als der Kanzler. Der Parteitag könnte launig werden.