Berlin – Der Migrationsforscher und Architekt des EU-Türkei-Abkommens von 2016, Gerald Knaus, drängt Bundeskanzler Olaf Scholz und die Bundesregierung nach dem EU-Gipfel zu umgehenden Maßnahmen in der europäischen Migrationspolitik. Knaus plädiert für Abkommen mit sicheren Drittstaaten. Würden Staaten noch heute ein solches vereinbaren, würde im März kaum noch jemand in Boote steigen, „weil klar wird, dass der irreguläre Weg keinen Erfolg verspricht“, sagt Knaus unserer Zeitung: „Ein echter Durchbruch in der Migrationskrise ist sofort möglich.“
In der rauer werdenden deutschen Migrationsdebatte fordern immer mehr Politiker Abkommen mit sicheren Drittstaaten. Solche Erfolge auf EU-Ebene gibt es bisher jedoch nicht. Knaus, der einst die Idee zum Abkommen mit der Türkei hatte, fordert von der Ampel-Koalition ein Umdenken. „Viele Menschen hängen im Paradigma fest, dass die einzige Art, nach Europa zu kommen, darin besteht, das eigene Leben riskieren zu müssen und auf Schlepper angewiesen zu sein.“ Stattdessen sollten Deutschland und die EU anderen Ländern attraktive Angebote machen, in denen humane Möglichkeiten der regulären Einreise und Rückführungen verankert sind. Besonders letztere haben Signalwirkung und zeigen den Schutzsuchenden, dass irreguläre Migration keine Aussicht auf Erfolg mehr biete.
Der wichtigste Faktor für neue Erfolge europäischer Migrationspolitik liegt Knaus zufolge aber nicht in Afrika, sondern dem Vereinigten Königreich. „Deutschland und andere EU-Staaten könnten sofort, in diesem Winter, beweisen, wie ein Abkommen die irreguläre Migration human reduziert, im Ärmelkanal zwischen der EU und Großbritannien. Dort stiegen im letzten Jahr 46 000 Menschen in Schlepperboote“, sagt Knaus im Interview. „Deutschland und Dänemark könnten London anbieten, ab dem 1. Januar jeden, der die EU so verlässt, sofort zurückzunehmen. Und das tun, was die Türkei 2016 tat: sich als sicherer Drittstaat anbieten.“
Im Gegenzug solle Großbritannien jährlich 20 000 Geflüchtete legal aufnehmen. „So zerstört man das Geschäft der Schleuser. Und beweist: Eine sichere Drittstaatspolitik ist für alle sinnvoll – und viel moralischer als der Status quo.“
Erst dann könnten Deutschland und die EU glaubwürdig in Verhandlungen mit afrikanischen Ländern gehen. „Olaf Scholz könnte sofort, am besten gemeinsam mit Dänemark und anderen Nachbarn, ein solches Angebot an Großbritannien machen. Deutschland würde Menschen zurücknehmen und damit zeigen, dass das funktioniert“, sagt der Migrationsforscher.
Knaus ist seit Wochen in der deutschen Spitzenpolitik zu Gast und leistet Überzeugungsarbeit. Ein Abkommen mit Großbritannien als ersten Schritt hält er in naher Zukunft für möglich: „Ich bin verhalten optimistisch. Ich habe mit vielen in der SPD gesprochen, mit der Union, den Grünen, der FDP. Viele sehen die Herausforderungen, aber eben auch, dass etwas geschehen muss.“ Knaus fordert beherztes Handeln: „Jetzt braucht es politische Führung und Mut. Und eine positive Vision: eine Welt mit mehr sicheren Drittstaaten, weniger tödlicher irregulärer Migration und wie in Kanada mehr legale Flüchtlingsaufnahmen.“ MORITZ MAIER