In einem Brief vom 15. Dezember 1922 beklagt der Dichter Rainer Maria Rilke, dass Weihnachten immer so schnell kommt: „Man rast im Lebensschnellzug darauf zu, hält an keiner Station, und es ist nicht einmal sicher, dass man in ,Weihnachten‘ halten wird, drei Minuten vielleicht, – und weiter auf die große Stadt ,Neujahr‘ zu, wo es endlich ein kleines Aussteigen gibt …“. Gerade heute in einer kriegerischen Welt ist Weihnachten aber doch viel mehr als ein Zwischenstopp auf einer Zugreise. Das liegt schon an den im Text wie in ihrer Melodie so vertrauten Weihnachtsliedern.
Drei gehören für mich besonders zu jeder weihnachtlichen Feier: „Maria durch ein Dornwald ging“, „Es ist ein Ros’ entsprungen“ und „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“.
Das Dornwald-Lied schildert die Wanderung Marias mit dem Kind „unter ihrem Herzen“. Der abgestorbene Dornwald ist Sinnbild der Unfruchtbarkeit und des Todes. Aber: „Als das Kindlein durch den Wald getragen, da haben die Dornen Rosen getragen.“
Um das Jahr 1860 ist es als Wallfahrer-Lied entstanden. Dann wurde es in der Wandervogel-Bewegung populär und in deren Buch von Wanderliedern, den berühmten „Zupfgeigenhansel“, aufgenommen.
Mitten in das Zentrum der weihnachtlichen Botschaft aber führt uns das viel ältere „Es ist ein Ros’ entsprungen“. Es stellt in seinem ersten Vers ein Rätsel, das sich bezieht auf eine Stelle bei Jesaja, in der es heißt: „Es wird hervorgehen ein Reis aus der Wurzel Jesse und eine Blume wird aus ihrer Wurzel aufgehen.“ Wer aber ist das Reis und wer die Blume?
Die Antwort auf diese Frage gibt die zweite Strophe mit seinem „das Röslein (Reis), das ich meine…, ist Maria die reine Magd. Aus Gottes ewgem Rat hat sie ein Kind („das Blümlein“ – Jesus) geboren und blieb eine reine Magd.“
Das Lied „O du fröhliche“ steht mitten im weihnachtlichen Leben des Bürgertums. Es wurde 1816 in Weimar gedichtet von dem „Waisenvater“ Johannes Daniel Falk aus dem Umkreis Goethes. Vier eigene Kinder hatte er durch eine Typhusepidemie verloren und in seiner „Trauerarbeit“ ein Waisenhaus gegründet. „O du fröhliche“ erklang zum ersten Mal auf der Weihnachtsfeier der Kinder dort.
So haben diese drei Lieder Wurzeln, die nicht unterschiedlicher sein könnten. Mit „Maria durch ein Dornwald ging“ im Tornister zog die deutsche Wandervogel-Jugend 1914 in den Krieg.
Das „O du fröhliche“ besingt das Weihnachtsfest unter dem Tannenbaum, wie es sich im 19. Jahrhundert in den Familien des Bürgertums entwickelt hat. Allein „Es ist ein Ros’ entsprungen“, in Melodie wie Text unverändert seit dem 15./16. Jahrhundert, feiert die christliche Kernaussage mit der jungfräulichen Mutter und dem Kind, das geboren ist aus Gottes ewgem Rat. So verschieden sie sein mögen, wie alle Weihnachtslieder schenken sie uns das doppelte Glück der vertrauten Sprachmelodien und der Gewissheit des ewigen Ursprungs. Fröhliche Weihnachten!
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