Krieg und Krisen prägen 2023 – wird das neue Jahr besser oder noch schlimmer? Kurz vor Silvester treffen wir Manfred Weber, Vize-Chef der CSU und Parteivorsitzender aller Konservativen in Europa. Ein nachdenkliches Gespräch ein halbes Jahr vor der Europawahl. Der Niederbayer Weber (51) rät dringend, die eigene Verteidigung zu stärken – europaweit. Er kündigt einen von Ernst und Ehrlichkeit geprägten Wahlkampf über die großen Leitfragen des Kontinents an.
Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, Krisen und Sorgen. Sie sind seit Jahrzehnten in der Politik. Gab es je eine so prekäre Lage rund um Europa?
In meiner Zeit: Nein. Ich bin sehr besorgt. Europa wird durchgerüttelt. Das Grundversprechen der EU, Frieden und Wohlstand zu bewahren, wird infrage gestellt. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass der amerikanische Schutzschirm über uns gespannt bleibt, sollte Trump gewählt werden. Sind wir als Europäer wirklich in der Lage, unsere Verteidigungsfähigkeit schnell so hochzufahren, dass wir uns selbst schützen können vor Aggressoren wie Putin, die die Freiheit und unsere Demokratie hassen?
Wie realistisch ist das Szenario weiterer russischer Angriffe in Europa? „Blödsinn“, sagt Putin.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist faktisch auch ein Angriff auf Europa. Es war ein Fehler, nach der Besetzung der Krim halbherzig zu reagieren, ein Fehler, Nord Stream 2 zuzulassen – davor habe ich gewarnt und leider Recht behalten. Wenn die Ukraine fällt, der Westen Schwäche zeigt, wird Putin weitermachen. Wir erleben das doch längst: digitale Angriffe auf das Baltikum, gesteuerte Fake-News-Kampagnen in der Slowakei, die die Gesellschaft spalten, Unterstützung radikaler Parteien in der EU, Auftragsmorde. Manche Deutsche spüren das noch wenig, aber die Realität heißt: Die EU-Staaten sind nicht Kriegspartei, aber Kriegsziel.
Verteidigungsminister Boris Pistorius hat gesagt, wir müssten „kriegstüchtig“ werden. Hat er Recht?
Ich teile seine Aussage, dass wir nur noch ein Zeitfenster von vier, fünf Jahren haben, um unsere Verteidigungsfähigkeit so zu stärken, dass wir Frieden sichern können.
„Frieden sichern“ klingt anders als „kriegstüchtig“.
Wir müssen ehrlich sagen: Krieg ist eine neue Realität in Europa. Und wir sind nicht immun. Wir müssen jetzt den Mut haben, große politische Konzepte zu planen, um uns selbst zu behaupten. Wir brauchen Führung in Europa.
Pistorius hat auch eine Dienstpflicht angeregt. Aus der CSU kommt nur verlegenes Schweigen.
Ich persönlich bin Anhänger der allgemeinen Dienstpflicht seit meinen Tagen als JU-Vorsitzender. In welcher Form, müssen wir diskutieren. Aber wir müssen den Menschen sagen: Es geht dich was an! Wir können die Verteidigung unseres Landes, unserer Lebensweise, unserer Werte nicht delegieren.
Braucht Europa jetzt doch eine gemeinsame Nuklearabwehr?
Wolfgang Schäuble hat das in einem seiner letzten Interviews formuliert. Und er hat Recht. Wir müssen das Angebot Emmanuel Macrons endlich aufgreifen, über Frankreichs Nuklearschirm zu reden. Es könnte etwa ein europäischer Rahmen für die französische Atom-Macht geschaffen werden. Gemeinsam finanzieren, gemeinsam entscheiden. Ich sage ausdrücklich auch: Lasst uns das mit unseren Freunden in London machen. Der Brexit ist, wie er ist. Aber in Verteidigungsfragen muss die europäische Staatengemeinschaft gemeinsam auftreten.
Ein weiter Weg…
Ja. Wir hören Sonntagsreden, aber sehen zu wenig Handeln am Montag. Weder schaffen es die EU-Staaten bisher, einen gemeinsamen Raketenschutzschirm aufzuspannen. Noch ist vom deutschen 100-Milliarden-Sondervermögen auch nur ein einziges Projekt mit europäischem Bezug realisiert worden. Das genügt nicht. Wenn die EU aber zusammensteht und gemeinsam die richtigen Antworten gibt, können Frieden und Wohlstand gesichert werden.
In einem Punkt, bei seiner etwas zögerlichen Unterstützung der Ukraine, hat Kanzler Scholz vermutlich die Mehrheit hinter sich.
Ich glaube zutiefst, dass die Mehrheit der Menschen den Erfolg der Ukraine will. Jeder will gleichzeitig, dass Russland zu einem Dialog zurückkehrt. Um den Weg dahin müssen wir ringen. Es wäre zynisch, die Ukraine bluten, aber nicht gewinnen zu lassen. Deshalb sollten wir auch die Taurus-Raketen liefern.
Bei uns leben ukrainische Männer. Sollten wir sie zum Dienst an der Waffe zurückschicken?
Die Ukraine hat klargestellt, dass sie keine Auslieferung erwartet. Da sehe ich keine offene Frage.
Sind Sie für mehr Härte gegenüber ukrainischen Bürgergeld-Empfängern?
Wichtig ist mir: Europa muss offen bleiben für die ukrainischen Flüchtlinge. Gerade Bayern leistet hier Enormes. Aber es muss gerecht zugehen. Ich unterstütze den Kurs der CSU-Landesgruppe. Den Anteil im Arbeitsmarkt sollten wir erhöhen.
Dobrindt sagt: Wer nicht arbeiten will, soll im Extremfall zurück in die West-Ukraine geschickt werden. Ist das zumutbar?
Jemanden in ein Land zurückzuschicken, das im Krieg ist, das ist schon eine sehr weitgehende Forderung.
Wird Ursula von der Leyen wieder antreten als EU-Spitzenkandidatin der Konservativen, sich endlich mal erklären? Oder schielt sie auf das Amt als Nato-Generalsekretärin?
Wir haben vereinbart, dass sie sich über den Jahreswechsel hinweg klar wird, ob sie wieder antreten will. Wenn ja, hat sie den ersten Zugriff. Ich habe in den letzten fünf Jahren gut mit ihr zusammengearbeitet.
In Bayern werden Sie mit ihr keinen Blumentopf gewinnen können.
Wir machen in Bayern bayerischen Wahlkampf. Da geht es um die großen Fragen des Kontinents, Frieden, Wohlstand; aber auch um Themen, die uns für Bayern besonders wichtig sind: Wolf, Zukunft des Verbrenners, Grenzschutz. Die CSU ist die einzige rein bayerische Kraft. Wer Aiwangers Freie Wähler wählt, bekommt Abgeordnete aus Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt.
Wie muss die CSU diesen EU-Wahlkampf führen? Immer feste drauf auf die Ampel, und dann daheim ein paar Bierzelt-Reden?
Für die Europawahl ist klar: Die Menschen haben ihr Urteil über die Bundesregierung gefällt. Weiteres Ampel-Bashing bringt keine zusätzlichen politischen Erfolge. Wir müssen klarmachen: Wir haben die besseren politischen Konzepte. Die Leitfrage ist, ob Politik das Vertrauen zurückgewinnt, dass sie wirklich Probleme lösen kann.
Oder ob die Europa- als Protestwahl taugt.
Diese Zeiten sind vorbei. Protest ist ja auf allen politischen Ebenen angekommen. Die AfD ist eine Partei, die Europa im Kern ablehnt. Björn Höcke sagt: Dieses Europa muss sterben. Meine Antwort ist: Dieses Europa ist nicht perfekt, aber das beste, das wir jemals hatten. Es ist unsere Lebensversicherung. Wir werden unser christdemokratisches Europa stärken und verteidigen. Am 9. Juni geht es um viel.
Interview: Georg Anastasiadis, Christian Deutschländer