Droht uns ein Gelbwesten-Protest?

von Redaktion

VON MARCUS MÄCKLER

München – Geschichte kann sich wiederholen, fast nie umfassend, umso öfter in Facetten. Es ist deshalb nicht ganz abwegig, sich dieser Tage an den Herbst 2018 erinnert zu fühlen. Damals war Corona noch eine Biermarke und ein Krieg in Europa schien quasi undenkbar. Wobei die Bilder, die man aus Frankreich sah, schon ein wenig an ein Schlachtfeld erinnerten.

Hunderttausende Franzosen zogen sich ab November gelbe Warnwesten über und gingen frustgeladen raus protestieren. Erst blockierten sie Straßen und Verkehrskreisel, später schlug das in Randale und Gewalt um. Es war ein Aufstand der unteren Mittelschicht, große, gefährlich aufgestaute Wut entlud sich, wochenlang. Am Beginn stand ein vergleichsweise lapidarer Auslöser: Paris hatte die Steuern auf Sprit erhöht.

Nun ist Deutschland nicht Frankreich, schon gar nicht mit Blick auf die Streikkultur. Und doch haben die hiesigen Bauernproteste, die sich am geplanten Wegfall des Agrardiesels entzündeten und am Montag mit einer großen Kundgebung in Berlin enden sollen, etwas von der Wucht der frühen Gelbwesten-Proteste. Von Beginn an solidarisierten sich andere Branchen: Gastronomen, Handwerker, Spediteure. Der Agrardiesel könnte ihnen eigentlich egal sein. Was sie eint, ist der Eindruck, die Politik lege ihnen immer neue Lasten auf.

„Die Proteste zeigten, dass im Land offenbar eine Spannung ist, die sich sehr stark gegen die Eliten da oben richtet“, sagte der Soziologe Rolf Heinze unlängst im Deutschlandfunk. Die Koalition mit anderen Branchen sei etwas Neues. Die Landwirte sieht Heinze als Seismografen für die Ängste und Konflikte, die es im Land gibt.

Es gibt ein paar Kennzahlen, die dazu passen. Laut ZDF-Politbarometer haben 68 Prozent der Deutschen Verständnis für die Proteste, 52 Prozent lehnen Kürzungen für Landwirte ab. Zugleich stehen die Regierungsparteien extrem schlecht da. Die SPD käme auf 13, die Grünen auf 14, die FDP auf vier Prozent. Die Beliebtheitswerte von Kanzler Olaf Scholz und seinen Ministern Robert Habeck und Christian Lindner sind im Keller. Weil so viel zusammenkommt, zitierte die Bundestags-SPD den Kanzler am Donnerstag zum Gespräch. Es dauerte drei Stunden, doppelt so lang wie geplant. Hinter verschlossenen Türen soll die Abgeordnete Dunja Kreiser laut „Bild“ unter Tränen von der Bauern-Wut erzählt haben, die ihr entgegenschlug.

Zwar gibt es Kontakte, aber die Regierung dringt nicht wirklich zu den Bauern durch. Stattdessen versucht sich die Konkurrenz an die Spitze der Proteste zu setzen. Am Freitag erst sprach Ministerpräsident Markus Söder bei einer Kundgebung in Nürnberg, Hubert Aiwanger hüpft zwischen den Demos umher wie ein Flughörnchen zwischen Bäumen.

Interessant: Auch die AfD will plötzlich Bauernpartei sein und versucht, sich an die Spitze des Protests zu setzen. Bei Corona funktionierte das, bei den Bauern bisher eher mäßig, trotz großer Anstrengungen. So setzte die Partei, die in ihrem Grundsatzprogramm ausdrücklich das Zurückfahren von Agrar-Subventionen propagiert, kurzfristig ein „Sofortprogramm für unsere Landwirtschaft“ auf. Eine der Forderungen darin: Verdoppelung der Agrardiesel-Rückerstattung.

Beim Bauernverband hat man das Spielchen durchschaut und kritisiert unter anderem die EU-feindlichen Parolen der Partei – immerhin ist der Agrarsektor stark von den Subventionen aus Brüssel abhängig. Die Vereinnahmungsversuche durch die AfD und andere rechte Parteien sind zwar stark und regional unterschiedlich erfolgreich. Vom großen Schulterschluss mit den Bauern ist man aber weit entfernt.

Bei den französischen Gelbwesten war das anders. Populisten rechts wie links machten damals massiv Stimmung, der Linke Jean-Luc Mélenchon und die Rechte Marine Le Pen profitierten. Der Soziologe Heinze sieht trotz der neuen Qualität keine Gelbwesten-Bewegung auf Deutschland zukommen, dagegen spreche besonders die unterschiedliche Protestkultur hierzulande. Lockerlassen wollen die Bauern allerdings nicht. In der „Augsburger Allgemeinen“ warnte Bayerns Bauernpräsident Günther Felßner vor einem „heißen Januar“.

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