München – Sie haben eine rote Linie gezogen: hunderttausende Menschen, quer verteilt in der gesamten Republik, die ihre Wut über die Deportationspläne hochrangiger AfD-Politiker zum Ausdruck gebracht haben. Deutschland bebt. Sowohl von Regierung als auch der Opposition gibt es viel Lob: Viele sehen in den Protesten ein Zeichen der Hoffnung, ein Aufstehen für die Demokratie. Bleibt nur die Frage, was die Demos überhaupt bewirken können – und ob sie den Höhenflug der AfD beenden werden.
Neuesten Umfragen zufolge liebäugelt jeder Fünfte damit, die AfD zu wählen. „Die Kernwählerschaft der AfD wird man mit den Protesten nicht umstimmen können“, sagt die Politologin Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, gegenüber unserer Zeitung. „Aber vielleicht die Schwankenden: So manch einer wird jetzt darüber nachdenken, ob die AfD nicht weit und gefährlich übers Ziel der Kontrolle von Migration hinausschießt.“
Auch der Parteienforscher Karl-Rudolf Korte meint, dass die Proteste auf den „Wählermarkt“ wirken könnten – allerdings nicht nur in eine Richtung. Zum einen könne es zu einer „Verhärtung mit Trotz-Wählern im radikalen Lager“ kommen, sagt der Politologe dem „Tagesspiegel“. Aber umgekehrt könnten die Demos auch zu einer „neuen Nachdenklichkeit“ führen, „die aus AfD-Sympathisanten Nichtwähler macht“. Einige „bürgerliche Wähler“ könnten wiederum bekehrt werden und wieder „mittig tendieren“, meint der Experte.
Politologin Ursula Münch findet: Die Demos allein können nichts verändern. „Egal, wie viele Menschen auf die Straße gehen: Sie werden die AfD nicht schwächen können, solange die zentralen Sorgen weiter Teile der Bevölkerung nicht gelöst werden.“ Dazu gehörten neben der Migrationskontrolle auch die Frage der Energiepreise und die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft. „Ich hoffe, die Regierung versteht die Botschaft der Proteste nicht falsch: Vor allem bei Grünen und SPD könnten sich jetzt manche darin bestärkt fühlen, migrationspolitisch nicht umsteuern zu wollen.“ Vielmehr seien die Proteste eine Aufforderung zum Handeln.
Aber auch die Opposition stehe unter Zugzwang. Sie müsse beweisen, „dass sie den Parteienwettbewerb mit seriösen Mitteln austragen kann“, erklärt Münch. Markus Söder und Friedrich Merz würden „mit ihrer Krawall-Rhetorik gegen die Grünen“ die Unzufriedenheit in der Bevölkerung unnötig anheizen. „Es ist auch völlig verkürzt, wie Hubert Aiwanger zu behaupten, die Ampel sei schuld am Aufstieg der AfD“, sagt sie.
Der Freie-Wähler-Chef behauptet derweil, die Demos gegen Rechts seien „vielfach von Linksextremisten unterwandert“. Söder widerspricht: „Die ganz große Mehrheit waren Bürgerliche, waren Vertreter der normalen Mitte der Gesellschaft.“ Die Proteste seien „ein sehr gutes Signal“, so der CSU-Chef – aber auch ein „Weckruf für die Ampel, viele Dinge zu ändern“.
Münch warnt zudem vor einer Spaltung in der Gesellschaft: Bei den Demos dürften auch einige ihre „eigene politische Agenda“ verfolgt haben. „Manche Redebeiträge klangen so, als sei jeder, der sich für weniger Zuwanderung ausspricht, automatisch ein Nazi.“ So ließen sich keine Wähler zurückgewinnen. Auch Bayerns Justizminister Georg Eisenreich kritisiert, dass die Demo-Veranstalter in München versucht hätten, „Stimmung für eine linke Migrationspolitik zu machen“. Der CSU-Politiker spricht von einem Versuch, zehntausende Münchner für die „eigenen politischen ideologischen Zwecke zu instrumentalisieren“ (siehe Text unten).