Ein Kriegsgegner fordert Putin heraus

von Redaktion

VON HANNAH WAGNER

Moskau – Es ist ein ungemütlicher Januartag in Moskau. Die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, Schnee fällt, die Gehwege sind matschig. Dennoch hat sich wieder eine lange Schlange vor dem Büro von Boris Nadeschdin gebildet – einem Kriegsgegner, der bei der Präsidentenwahl am 17. März Kremlchef Wladimir Putin herausfordern will. Damit er zugelassen werden kann, muss er mindestens 105 000 Unterschriften sammeln. Dazu wollen diese Moskauer beitragen.

Junge und Alte sind gekommen, Studenten und Rentner, Männer und Frauen. Auf der anderen Straßenseite hat die Polizei Stellung bezogen. „Er ist der einzige Bewerber, der offen gegen die militärische Spezialoperation auftritt“, sagt der 68 Jahre alte Juri über Nadeschdin. „Ein Kandidat mit Anti-Kriegs-Politik ist meiner Meinung nach das, was wir brauchen“, sagt auch die 20-jährige Anna, die wenige Schritte hinter Juri steht.

Eigentlich soll die von Manipulationsvorwürfen begleitete Präsidentenwahl aus Sicht des Kreml einen doppelten Zweck erfüllen: Sie soll dem 71-jährigen Putin seine fünfte Amtszeit sichern und damit zugleich demonstrieren, wie sehr das Volk angeblich auch nach zwei Jahren noch den Krieg gegen die Ukraine unterstützt. Stattdessen sorgt nun ausgerechnet der Bewerber für Schlagzeilen, der als einziger diese Invasion entschieden ablehnt.

Der 60-jährige Nadeschdin ist in der russischen Politik alles andere als ein Newcomer. Für den liberalen Block „Union der rechten Kräfte“ saß er von 1999 bis 2003 in der Staatsduma, später wechselte er mehrfach die Partei. Er hat Kontakte in die Präsidialverwaltung und trat jahrelang in Talkshows des Staatsfernsehens auf. Nadeschdin galt bislang als Pragmatiker, der auch mal mit den Mächtigen kooperierte, wenn ihm das nützlich schien.

Nun aber ist er auf Konfrontationskurs zum Kreml gegangen. Zwar formuliert er vorsichtig, sobald es um Kriegskritik geht – weil sonst Straflager droht. Er spricht von „all dem“, wenn er den Krieg meint, und von „dort“, wenn es um die Ukraine geht. Doch seine Botschaft ist klar: „Das Land will, dass all das aufhört. Die Leute wollen, dass die, die dort sind, zurückkehren“, sagte er kürzlich bei einem Auftritt, bei dem er sich mit Soldaten-Frauen zeigte.

Dass mittlerweile Oppositionsgrößen wie der im Exil lebende Michail Chodorkowski und der inhaftierte Alexej Nawalny zur Unterstützung Nadeschdins aufrufen, gibt ihm Auftrieb. Auch die Kremlkritikerin Jekaterina Dunzowa, die selbst Kandidatin werden wollte, hat sich auf seine Seite geschlagen, nachdem die Wahlkommission sie aus dem Rennen geschickt hatte.

Mit all diesem Rückhalt erreicht Nadeschdin sein Etappenziel: Bis Ende letzter Woche konnte er rund 200 000 Unterschriften sammeln. Ob er wirklich auf dem Wahlzettel erscheinen wird, ist dennoch fraglich. „Ich halte das nicht für sehr realistisch“, sagt der Journalist und politische Analyst Andrej Perzew. Der Kreml wollte die Wahlen „vollständig kontrollieren“.

Womöglich habe der Kreml der Bewerbung Nadeschdins anfangs wohlwollend gegenübergestanden – und ihn für einen willkommenen Pseudo-Rivalen gehalten, der eine Wahlmöglichkeit suggeriert, wo gar keine ist. Doch mit seiner offenen Kriegskritik sei Nadeschdin längst unbequem geworden. Perzew ist überzeugt: Würde man Nadeschdin als Kandidaten zulassen, wäre er angesichts der Kriegsmüdigkeit vieler Russen ein „echtes Risiko“ für den Kreml.

Zudem sei der Zeitpunkt, um Nadeschdin zu stoppen, nun besonders günstig: Denn die Auflagen für eine Zulassung als Kandidat sind komplex, die Anforderungen an Formalitäten bei den Bürgerunterschriften hoch. Für die Wahlkommission, die die Unterschriften bis 10. Februar sichten muss, sei es ein Leichtes, Nadeschdin den Kandidatenstatus zu verweigern. Auch viele seiner Unterstützern wissen, dass ein Kriegsgegner wie er kaum Chancen haben dürfte in Putins Russland, das immer repressiver gegen Andersdenkende vorgeht.

Natalja, 34 Jahre alt, bittet explizit darum, auch in diesen Artikel aufgenommen zu werden. Es gebe viele Kriegsunterstützer in Russland, aber die Welt solle sehen, dass es auch Gegner gebe. Die vielen Menschen in der Schlange hätten ihr Mut gemacht. „Selbst wenn Nadeschdin nicht gewinnt, weiß ich nun, dass ich nicht alleine bin.“

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