München – Wer gedacht hatte, nun ginge es nicht mehr schlimmer, musste sich gestern eines Schlechteren belehren lassen. Mehrere Medien meldeten da mit Verweis auf ein israelisches Geheimdienstdossier, dass etliche Mitarbeiter des Hilfswerks UNRWA im Gazastreifen Verbindungen zur Hamas oder dem ähnlich radikalen Islamischen Dschihad hätten. Die Nachrichtenagentur Reuters bezifferte die Menge auf 190, das „Wall Street Journal“ behauptete gar, es handle sich um zehn Prozent des gesamten Personals. Bei rund 12 000 Mitarbeitern wären das deutlich über tausend.
Das klingt noch übler als die ohnehin schon verheerenden Enthüllungen um das Dutzend UNRWA-Mitarbeiter, das an den Hamas-Massakern vom 7. Oktober beteiligt sein soll. Und es rückt endgültig eine Organisation in den Fokus, die ebenso umstritten wie unverzichtbar ist.
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten ist 1949 eigentlich als temporäre Einrichtung gegründet worden, das Mandat wird von der UN-Generalversammlung aber im Drei-Jahres-Turnus verlängert. Es betreut fast sechs Millionen registrierte Flüchtlinge, unterhält Schulen, Krankenhäuser, Flüchtlingslager und vieles mehr.
Als nach den Hamas-Angriffen in Kliniken im Gazastreifen Tunnel-Ausgänge und Kommandozentralen der Terrororganisation entdeckt wurden, geriet auch die UNRWA in Erklärungsnot. Mal wieder. Schon im Sommer 2023 hatte ihr Generalkommissar Philippe Lazzarini in einem Interview mit dem Wiener „Standard“ beschwichtigt, man müsse „mit ihnen in Kontakt sein, um dort überhaupt arbeiten zu können“. Es gebe aber klare Grenzen, an denen jeder weiterreichende Einflussversuch der Hamas abpralle. Damals ging es um Vorwürfe, an Schulen der UNRWA werde Gewalt gegen Juden verherrlicht.
Die Vorwürfe nun sind noch wesentlich ernster. Zahlreiche Staaten, darunter Deutschland und die USA, haben ihre Unterstützung für die UNRWA eingestellt. Gestern traf sich UN-Generalsekretär Antonio Guterres mit Vertretern wichtiger Geberländer, um die weitere Finanzierung zu sichern. Allein die Bundesregierung überwies im vergangenen Jahr über 200 Millionen Euro, von denen 83 Millionen für die Menschen im Gazastreifen bestimmt waren.
Für Guterres ist es ein heikler Spagat. Der Portugiese lässt ausrichten, er sei „persönlich entsetzt“, und kündigt eine interne Untersuchung an, gleichzeitig bittet er um weiteres Geld. Eines der größten Hindernisse scheint dabei allerdings zunehmend der Generalsekretär selbst zu sein.
Seit Beginn des Gaza-Krieges steht Guterres (74) in der Kritik. Auslöser war seine Aussage vor dem UN-Sicherheitsrat, die Hamas-Attacken hätten sich nicht „in einem Vakuum“ ereignet. Das klang, als habe Israel das Massaker selbst provoziert. Auch mehrere Israel-kritische Resolutionen und das quälend lange Schweigen zur sexualisierten Gewalt der Hamas sorgten für Kritik, Guterres’ Einschätzung, die Tötung von Zivilisten im Gazastreifen sei in seiner Amtszeit „beispiellos“, irritierte angesichts der Gräueltaten in der Ukraine und Syrien ebenfalls. In der Summe ergab sich das Bild einer Institution, die sich in diesem Konflikt früh auf die Seite der Palästinenser stellte und damit gegen die Opfer der blutigen Attacken. Die Aufregung um das Hilfswerk ist nun ein weiterer Mosaikstein.
„In seiner jetzigen Form ist die UNRWA kein Teil der Lösung, sondern ein Hindernis auf dem Weg zu Frieden“, sagt der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, der „FAZ“. Gleichzeitig attestiert selbst US-Außenminister Antony Blinken, dessen Regierung die Unterstützung als Erste einstellte, dem Werk eine „absolut unverzichtbare Rolle“ im Gazastreifen. Mit der UNRWA, lässt sich daraus schließen, scheint es nur noch schwer weiter zu gehen. Ohne aber auch nicht.
Zu denken gibt Matthias Schmale, dem früheren Chef des Hilfswerks im Gazastreifen, der Zeitpunkt der Enthüllungen. Im „Deutschlandfunk“ nannte er ihn gestern „politisch bestimmt“ und verwies auf das Urteil des Internationalen Gerichtshofs kurz zuvor. Dass sich unter den Mitarbeitern auch Hamas-Helfer befänden, sei durchaus möglich. Eine Größenordnung über tausend aber sei „total übertrieben“.