Der EU geht die Geduld aus

von Redaktion

VON MARCUS MÄCKLER

München – Die Katze sei aus dem Sack, schnaufte Viktor Orbán dieser Tage. Ungarn werde erpresst, weil es „seine eigene Meinung zu Migration, Ukraine-Krieg und Genderpropaganda“ habe – und die Anleitung dazu stehe sogar in der Zeitung. Der Regierungschef klang gerade so, als käme er selbst niemals auf die Idee, grenzwertige Mittel einzusetzen. Nun gut: Das weiß man in Brüssel seit Langem besser.

Ebendort kommen heute die 27 Staats- und Regierungschefs der EU zusammen, um über das 50-Milliarden-Paket für die Ukraine zu beraten. Noch mal, muss man sagen. Das Treffen wäre gar nicht nötig, wenn Ungarn den fertigen Beschluss im Dezember nicht blockiert hätte. Für sein Ja forderte Orbán damals die Freigabe von 20 Milliarden Euro eingefrorener EU-Mittel, was viele als Erpressungsversuch werteten. Er bekam das Geld aber nicht – und revanchierte sich mit einem Veto.

Das Spielchen ist bekannt. Doch vor dem heutigen Sondergipfel deutet sich an, dass die Mehrheit der übrigen 26 von Ungarns Querschüssen so langsam die Nase voll hat. Zwei Möglichkeiten stehen offenbar im Raum, um Orbán die Grenzen aufzuzeigen.

Eine davon nennen sie in Brüssel die „nukleare Option“: Es ginge darum, Artikel 7 des EU-Vertrags zu aktivieren und Ungarn so das Stimm- und Vetorecht im Europäischen Rat zu entziehen. Das wäre der harte, steinige Weg: Es bräuchte eine einstimmige Entscheidung der anderen 26, was als unwahrscheinlich gilt. Zwar hat Orbán Polen nicht mehr an seiner Seite. Dafür dürfte aber der slowakische Linkspopulist Robert Fico nicht mitmachen; auch Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, die versucht, zwischen Budapest und Brüssel zu vermitteln, steht Artikel 7 wohl skeptisch gegenüber.

Möglichkeit zwei ist jene, die Orbán für Erpressung hält und die tatsächlich eine neue Qualität im Umgang miteinander darstellen würde. Nachzulesen war sie Anfang der Woche in der „Financial Times“: Sollte Ungarn sich am Donnerstag bei den Ukraine-Hilfen wieder querstellen, hieß es dort, dann werde man der ungarischen Wirtschaft bewusst Schaden zufügen.

Die Zeitung zitierte aus einem vertraulichen Plan. Demnach sollen die übrigen EU-Länder im Fall einer Orbán-Blockade öffentlich erklären, dass es für Budapest auf absehbare Zeit kein EU-Geld mehr geben werde. Das könnte dem Dokument zufolge Finanzmärkte und Firmen abschrecken, in Ungarn zu investieren und „schnell ein weiteres Anwachsen des Staatsdefizits und einen Absturz der Währung auslösen“.

Die EU kommentierte das nicht. Aber es wirkte fast so, als sollte das Dokument vor dem Gipfel öffentlich werden, um Orbán klarzumachen, wie ernst es diesmal ist. In einem Interview mit dem französischen Magazin „Le Point“ erklärte er sich am Montag denn auch dazu bereit, das über vier Jahre laufende und aus dem EU-Haushalt finanzierte Hilfspaket mitzutragen. Allerdings nur, „wenn wir jedes Jahr darüber entscheiden, ob wir dieses Geld schicken oder nicht“ – und zwar einstimmig.

Aus Sicht seiner Kritiker ist das aber ein vergifteter Vorschlag. Denn er würde es Ungarn ermöglichen, jedes Jahr aufs Neue mit Veto zu drohen, um in Brüssel eigene Interessen durchzusetzen. Außerdem stünden die Milliarden, mit denen die Ukraine wirtschaftlich und militärische gestützt werden soll, immer wieder auf der Kippe.

Dass am Ende des heutigen Gipfels eine Einigung steht, ist also völlig ungewiss. In Brüssel machen deshalb alternative Optionen die Runde. Möglich wäre, dass die anderen 26 EU-Mitglieder die Ukraine-Hilfe ohne Ungarn tragen und dafür Kredite aufnehmen. Schnell geht das allerdings nicht, weil die nationalen Parlamente dem zustimmen müssten.

Es gäbe noch einen Weg: Einzelne EU-Länder müssten mehr Hilfe leisten. Bundeskanzler Olaf Scholz telefoniert deshalb seit Tagen seine EU-Kollegen durch und hat das Thema auf die heutige Tagesordnung setzen lassen. Warum, das lässt sich an den nackten Zahlen ablesen: Laut dem Kieler Institut für Weltwirtschaft ist Deutschland in absoluten Zahlen der größte Ukraine-Geber in der EU: Seit Kriegsbeginn gab Berlin 21 Milliarden Euro, Frankreich nur 1,7 Milliarden.

Auf dem Gipfel wird auch das zur Sprache kommen.

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