München – Der Machtkampf in Kiew spitzt sich zu. Präsident Wolodymyr Selenskyj soll das Weiße Haus über seine Entscheidung informiert haben, den Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, General Walerij Saluschnyj, seines Postens zu entheben. Washington habe die Entscheidung weder gebilligt noch beanstandet, berichtete unter anderem die „New York Times“. Doch noch immer ist unklar, ob Saluschnyj seine Entlassung hinnimmt.
Eine Stelle als Berater, die ihm angeboten wurde, soll er abgelehnt haben. Zudem sprang ihm gestern Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko zur Seite: „In vielerlei Hinsicht ist es Saluschnyj zu verdanken, dass die Ukrainer wirklich an unsere Streitkräfte geglaubt haben.“ Der General habe während des Krieges mehrfach schwierige Situationen überstanden. Klitschko befürchtet, dass politische Interessen über „den gesunden Menschenverstand und die Interessen des Staates“ gestellt werden. Er hoffe, dass die Landesführung den Ernst der Lage und die „gesamte Verantwortung“ begreife. Klitschko forderte, innere Kämpfe zu beenden.
Selenskyj erklärte gestern gegenüber dem italienischen Sender Rai, es sei ein „Neuanfang“ in der Führungsebene von Staat und Militär notwendig. Auf die konkrete Frage nach Saluschnyjs Entlassung sagte der Präsident: Er denke zwar über dessen Ablösung nach, aber es gehe ihm nicht um eine einzelne Person. „Es ist eine Frage, die die gesamte Führung betrifft, die die Maschine des Landes antreibt, die groß und komplex ist.“ Er plane „die Ablösung einer Reihe von führenden Persönlichkeiten des Staates, nicht nur in einem einzelnen Bereich wie dem Militär“. Laut der Zeitung „Ukrainska Prawda“ will Selenskyj auch Generalstabschef Serhij Schaptala entlassen.
Saluschnyj gratulierte Schaptala gestern zum Geburtstag und veröffentlichte ein gemeinsames Foto mit dem Generalstabschef bei Facebook. „Es wird immer noch sehr schwierig für uns sein, aber wir werden uns definitiv niemals schämen“, schrieb Saluschnyj dazu.
Selenskyj erklärte, alle an der Staatsspitze müssten in dieselbe Richtung gehen und überzeugt vom Sieg der Ukraine sein. An diesen Punkt hatte sich der Streit mit Saluschnyj entzündet, nachdem der General im November eingeräumt hatte, dass es bei den Kämpfen mit Russland ein „Patt“ gebe. Selenskyj bestritt dies. Seither gab es gegenseitige Vorwürfe. Selenskyj macht den Oberbefehlshaber für das Scheitern der Offensive im Sommer verantwortlich. General Saluschnyj wiederum gab den Politikern die Schuld dafür, dass die Ukraine keine „angemessene“ Wehrpflicht einführen und die Rüstungsproduktion steigern konnte, sodass das Land „zu“ abhängig von ausländischer Hilfe wurde.
Der 50-Jährige wurde wenige Monate vor dem russischen Einmarsch vom Februar 2022 Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee. Unter seinem Kommando hielten die ukrainischen Truppen der Invasion stand und eroberten sogar besetzte Gebiete zurück – weshalb er von vielen Ukrainern bis heute als Held verehrt wird. Auch bei seinen Soldaten ist er beliebt. Seine Entlassung wird als Versuch Selenskyjs gesehen, einen möglichen politischen Rivalen los zu werden.
Das Vertrauen der Ukrainer in Saluschnyj ist höher als das in Selenskyj, der den Zenit seiner Popularität offenbar überschritten hat. Jüngsten Umfragen vom Dezember 2023 zufolge vertrauen Saluschnyj 88 bis 94 Prozent der Ukrainer. Die Unterstützung für Selenskyj schwankt zwischen 62 und 77 Prozent. Saluschnyj hat politische Ambitionen stets dementiert. KLAUS RIMPEL