München – Bis Dezember lebte Usama Antar im Gazastreifen und leitete das dortige Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, dann konnte er mit Hilfe der deutschen Botschaft ausreisen. Rund 20 Jahre führte er in der Enklave unter widrigsten Umständen Projekte zur Demokratieförderung durch. Der Politologe, der in Münster studierte und promovierte, ist unmittelbar von der Eskalation betroffen. Ein Teil seiner Familie lebt im überfüllten Süden des Gazastreifens, wo Israel seine Angriffe ausweitet.
Die jüngsten Nachrichten aus der Region um Rafah klingen dramatisch. Was hören Sie von dort?
Alles deutet darauf hin, dass in den nächsten Tagen eine Invasion stattfindet. Die jüngste Befreiung von zwei Geiseln in Rafah könnte bedeuten, dass es zu weiteren ähnlichen Aktionen kommen wird. Für die Hamas-Leute kam das überraschend, sie werden nun noch wachsamer sein. Das macht diese Einsätze noch schwieriger und für die übrigen Geiseln gefährlicher. Die Chance, dass sie lebend heimkehren, ist stark gesunken.
Woraus schließen Sie das?
Dieser Krieg hat keine ethische Grundlage mehr. Deshalb muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Leidtragende sind die Zivilisten.
Welche Möglichkeit haben die Palästinenser im Süden des Gazastreifens, sich in Sicherheit zu bringen?
Israel bemüht sich nicht um den Schutz von Zivilisten. Es erlaubt ihnen nicht, die Region Rafah wieder in Richtung Norden zu verlassen. Sie lassen auch nicht ausreichend Hilfsgüter zu. Glaubt Israel, damit die Hamas zu treffen?
Die Hamas hat damit gar nichts zu tun. Das ist ein Krieg gegen Zivilisten und nur nebenbei gegen die Hamas – das ist die Überzeugung der Menschen dort.
Was geben Sie auf die Ankündigung Netanjahus, Zivilisten einen „sicheren Korridor“ zu gewähren?
Die Leute sind der Aufforderung Israels gefolgt, in den Süden zu gehen. Nun müssen sie auch die Möglichkeit haben, von dort wegzugehen, zurück in ihre Häuser im Norden, in der Hoffnung, dass sie nicht komplett zerstört sind. Dann kann Israel machen, was es will. Die Leute halten nicht zur Hamas, sie verabscheuen sie. Über 90 Prozent hassen die Hamas. Es geht ihnen jetzt nur noch um ihr eigenes Leben, das Netanjahu in ihren Augen völlig egal ist.
Glauben Sie, dass Ägypten seine Grenze noch öffnet?
Nein, nie und nimmer. Der ägyptische Präsident befürchtet, in diesem Fall daheim als Kollaborateur gesehen zu werden, der mit Israel kooperiert, um die Vertreibung der Palästinenser zu befördern.
Erfahren Sie in diesen Tagen von konkreten Schicksalen aus dem Süden?
Ich habe Verwandte dort, Schwestern, Cousinen und Cousins. Die möchten raus, haben aber nicht genug Geld, um sich die Ausreisegebühren zu leisten. 5000 Dollar pro Person, bei einer sechsköpfigen Familie sind das bis zu 30 000.
Was bekommen die Menschen an Hilfsgütern?
Sehr, sehr wenig, vielleicht zehn Prozent des Bedarfs. Teile dieser Hilfsgüter werden mittlerweile auch gestohlen und dann zum zehnfachen Preis weiterverkauft.
Wer steckt dahinter?
Irgendwelche Diebe, die die Lastwagen überfallen, sobald sie die Grenze überquert haben. Die Verteilung der Güter ist sehr schwierig geworden.
Die UN-Hilfsorganisation UNRWA kann dieser Aufgabe nach den schweren Vorwürfen nicht mehr nachkommen. Ist der Vorwurf berechtigt, ein Teil der Güter lande direkt bei der Hamas?
Nein, das ist Quatsch. Die Hamas hat ihre eigenen Vorräte, sie haben sie schon vor Monaten organisiert. Sie haben ihre eigene Energieversorgung. Alles ist gut vorbereitet, nur die einfachen Menschen haben nichts davon.
Wie präsent ist die Hamas?
Sie lässt sich nicht blicken. Man sieht keine Hamas-Kämpfer auf den Straßen, niemals. Die Menschen haben deshalb das Gefühl, dass sie das Ziel der israelischen Angriffe sind, nicht die Hamas.
Wo sind die Hamas-Kämpfer dann?
In den Tunneln, schon seit Beginn des Krieges. Wenn die israelischen Panzer vorrücken, verschwinden sie darin.
Der Zorn in der Zivilbevölkerung muss doch riesengroß sein.
Die Menschen im Gazastreifen machen die Hamas für dieses ganze Desaster verantwortlich. Die Israelis töten Palästinenser, sie sind der Feind, trotzdem geben die Menschen der Hamas die Schuld.
Ist eine Zukunft im Gazastreifen ohne die Hamas realistisch?
Ein Leben ohne die Hamas als Machtfaktor, nicht in der Regierung, das ist wohl realistisch. Allerdings ist es total unrealistisch, sie militärisch zu besiegen. Die Hamas ist nicht nur eine politische und militärische, sondern auch eine soziale und religiöse Bewegung, und sie ist nicht nur in Gaza. Sondern auch in der Westbank und im Ausland. Die Pro-Hamas-Leute im Ausland unterstützen sie viel mehr als im Inland. Man kann die Hamas deshalb zwar schwächen. Aber innerhalb einiger Jahre kann sie sich wieder bilden. Man muss deshalb eine politische Lösung suchen.
Wie könnte die aussehen?
Es ist unser Schicksal, dass wir miteinander leben, Israelis und Palästinenser. Deshalb sollten an die Stelle von täglichem Blutvergießen sofort vertrauensbildende Maßnahmen treten. Gegenseitige Abhängigkeiten, wirtschaftliche Verbindungen, es gibt sehr viele Sachen, die man machen kann, um miteinander zu leben.
Halten Sie so ein Szenario, womöglich eine Zweistaatenlösung, für realistisch?
Die einzige Alternative dazu wäre eine weitere Fortsetzung der Konflikte.
Interview: Marc Beyer