von Redaktion

VON M. MÄCKLER, M. SCHIER, K. RIMPEL, K. BRAUN

München – Als sie die Bühne im Bayerischen Hof betritt, erhebt sich der Saal. Niemand hier hat damit gerechnet, dass sie sprechen würde: Julija Nawalnaja, die in diesem Moment nicht weiß, ob ihr Mann noch lebt. Oben am Pult hält sie inne, atmet mehrmals tief ein, und als der Applaus versiegt, öffnet sie ihr Herz: „Ich habe lange überlegt, ob ich wirklich zu Ihnen sprechen oder lieber zu meinen Kindern zurückreisen sollte“, sagt sie. Dann habe sie sich gefragt, was Alexej getan hätte. „Ich bin mir absolut sicher, er wäre hiergeblieben.“

Es ist einer der bewegendsten Momente in der 60-jährigen Geschichte der Sicherheitskonferenz. Kurz zuvor hat die russische Justiz erklärt, der prominente Oppositionelle Alexej Nawalny sei in der Strafkolonie gestorben. Viele mutmaßen gleich, er sei ermordet worden. US-Vizepräsidentin Kamal Harris spricht von einem „neuen Zeichen der Brutalität“ Putins.

Julija Nawalnaja, die bemerkenswert gefasst wirkt, sagt nur wenige Sätze. Man könne dem Regime nicht trauen. Wenn es aber stimme, wenn ihr Mann tot sei, dann sollten Putin und seine Freunde eines wissen: „Sie werden bestraft werden für das, was Sie meinem Land angetan haben. Für das, was Sie meiner Familie angetan haben. Für das, was Sie meinem Mann angetan haben. Und dieser Tag wird bald kommen.“ Nawalnaja ruft die internationale Gemeinschaft auf, „zusammenzustehen und gegen dieses Böse zu kämpfen“. Putins Regime.

Zuvor hatte die russische Gefängnisverwaltung des Lagers IK-3 nördlich des Polarkreises mitgeteilt: „Am 16. Februar 2024 fühlte sich der Häftling A.A. (Alexei Anatoljewitsch, Anm.) Nawalny nach einen Spaziergang unwohl und verlor fast direkt danach das Bewusstsein. Die medizinischen Mitarbeiter der Institution waren gleich am Schauplatz und riefen ein Notfallteam. Alle nötigen Wiederbelebungsmaßnahmen wurden in Gang gesetzt, hatten aber keine positiven Resultate. Notfallärzte bestätigten dann den Tod des Häftlings.“

Kurz nach dieser Nachricht veröffentlichen unabhängige russische Medien ein Video, das Nawalny am Donnerstag bei einer Gerichtsanhörung im Gefängnis zeigen soll. Nur einen Tag vor seinem Tod. Der Gefangene wirkt in dem 30 Sekunden langen Clip geradezu fröhlich, lacht sogar. Nawalnys deutscher Anwalt Nikolaos Gazeas berichtet, noch am Mittwoch habe ein russischer Anwalt Nawalny besucht. „Da ging es ihm den Umständen entsprechend gut.“

Nawalny hatte 2011 die Stiftung für Korruptionsbekämpfung gegründet und mit Videos das Luxusleben der Kreml-Elite bloßgestellt – auch das von Putin persönlich (siehe unten). Bei der Bürgermeisterwahl in Moskau im September 2013 erzielte er laut Regierung 27 Prozent der Stimmen. Schritt für Schritt wurde er zum wichtigsten Kritiker des Kreml. Bis zuletzt rief er aus dem Gefängnis heraus zum Widerstand auf.

Die Betroffenheit ist groß – nicht nur im Saal der Sicherheitskonferenz. Vor der russischen Botschaft in Berlin versammeln sich spontan 1000 Menschen, auch in München kommen am Abend Hunderte vor dem Konsulat zusammen. Es gibt zornige Rufe und Tränen. Ungewöhnlich: Sogar Angela Merkel, die Nawalny nach dem Giftanschlag Asyl und medizinische Betreuung in Deutschland bot, meldet sich zu Wort: „Er wurde Opfer der repressiven Staatsgewalt Russlands. Es ist furchtbar, dass mit ihm eine mutige, unerschrockene und sich für sein Land einsetzende Stimme mit fürchterlichen Methoden zum Verstummen gebracht wurde.“

Moskau strickt derweil an seiner eigenen Version. Wjatscheslaw Wolodin, Vorsitzender der russischen Staatsduma, macht sogar den Westen und die Ukraine für den Tod verantwortlich. Westliche Politiker würden davon profitieren. Die Behörden warnen davor, an Protesten teilzunehmen. Videos zeigten trotzdem viele Trauernde in Moskau. Ihre Blumen wurden von Sicherheitskräften später entfernt.

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