München – Als eine ältere Frau gerade ein paar Rosen in den Schnee legt, kommt ein Polizist auf sie zu. „Wenn Sie hier Blumen niederlegen, müssen Sie sich da hinten an der Kreuzung versammeln“, sagt er. Das ist an alle Menschen gerichtet, die vor der berühmten Mauer der Trauer in Moskau stehen. Die Polizei nimmt ihre Personalien auf. Im Netz kursieren etliche Bilder dazu. Einsatzkräfte zerren Trauernde weg, tragen sie an Händen und Füßen in Polizeiautos. Menschen werden mit dem Gesicht zu Boden gedrückt. Auf einem Video skandiert eine Gruppe von Menschen „Schande“, bis die Polizei eingreift und einem Mann ins Gesicht schlägt.
Die Mauer der Trauer in Moskau soll den Opfern des stalinistischen Terrors gedenken, doch dieser Tage ist sie ein Symbol der Unterdrückung Putins: Menschen weinen dort um Alexej Nawalny, weil sie die Geschichten des Kremls nicht mehr glauben. Weil sie sich sicher sind, dass der russische Präsident seinen größten politischen Gegner ermordet hat – auch wenn russische Medien behaupten, er sei an einem Blutgerinnsel gestorben. Im ganzen Land legen Russen Blumensträuße nieder; eine eigentlich so sanfte Form des Protests, die bei der russischen Regierung aber offenbar große Unruhe auslöst: Seit der Meldung von Nawalnys Tod am Freitag seien in Russland mindestens 400 Menschen festgenommen worden, berichtet die Menschenrechtsgruppe OVD-Info.
„Der Verräter Putin macht die Menschen zu Sklaven“, traut sich eine ältere Dame in St. Petersburg vor Kameras zu rufen. Sie ist aufgebracht. Dann ruft sie die Menschen um sich herum zum Widerstand auf. „Warum stehen wir nicht auf und sagen ihm, dass er sich verziehen soll?“
Es sind Bilder wie diese, die vielen Menschen dieser Tage Hoffnung machen: dass der Tod Nawalnys den Bürgern Russlands die Augen geöffnet haben könnte. Seit Freitag redet die gesamte Weltpolitik darüber, die Trauer um den Kremlkritiker lag wie ein Schatten über der Münchner Sicherheitskonferenz – vor allem nach dem denkwürdigen Auftritt seiner Frau Julija, die auf der Bühne zum gemeinsamen Kampf gegen das russische Regime aufrief. Viele Teilnehmer glauben, dass Putin den Zeitpunkt nicht zufällig gewählt habe: Denn der Präsident hat es auch ohne seine Anwesenheit geschafft, Hauptthema des weltweit wichtigsten Forums für Sicherheitspolitik zu bleiben.
„Es war ohne Zweifel Mord“, sagt Schanna Nemzowa, Journalistin und Tochter des 2015 ermordeten Regimekritikers Boris Nemzow, auf der Bühne. Sie ist sicher: Wenn eine Regierung ihre Gegner umbringt, sei das ein Zeichen der Schwäche. „Das könnte auch mit dem plötzlichen Erfolg Nadeschdins zu tun haben: Die Zahl seiner Unterstützer hat dem Kreml Angst eingejagt.“ Der oppositionelle Boris Nadeschdin hatte kürzlich mehr als 100 000 Unterschriften bei der Wahlkommission eingereicht, um bei der Präsidentschaftswahl im März antreten zu dürfen. Die Behörde hatte seine Kandidatur abgewiesen.
Nemzova sagt, die Regierung habe mit dem Zuspruch nicht gerechnet – offenbar hätten immer mehr Russen genug vom Krieg, genug von der russischen Politik. Deshalb habe Putin entschieden, Nawalny als Gesicht des Widerstands auszuschalten. „Leider sehe ich niemanden, der seinen Platz einnehmen könnte“, sagt die Exil-Russin.
Die Regimekritiker Russlands stehen nun ohne ihr Idol da. Nawalny war auf diesen Fall vorbereitet. „Wenn sie entschieden haben, mich zu töten, bedeutet das, dass wir in diesem Moment besonders stark sind“, sagte er bereits vor Jahren in einer Doku. Dem russischen Volk gab er einen Wunsch mit: „Seid nicht tatenlos, gebt nicht auf.“