München – Julija Nawalnaja weiß, dass ihr Video falsch beginnt. In den vielen anderen Clips auf dem Youtube-Kanal hatte ihr Mann da gesessen, gut gelaunt, kurzer Winker, dann der immergleiche saloppe Einstieg: „Hi, hier ist Alexej Nawalny.“ Dann präsentierte er meist seine Recherchen über die korrupten Politiker der Regierung, nahm die russische Elite aufs Korn, äffte den Präsidenten nach. Doch nun sitzt seine Frau da, mit Tränen in den Augen und einem traurigen Lächeln auf den Lippen. „Hi, hier ist Julija Nawalnaja“, sagt sie. „Und an meinem Platz sollte eigentlich ein anderer Mensch sitzen. Aber dieser Mensch wurde von Wladimir Putin umgebracht.“
Drei Tage nach dem Tod von Alexej Nawalny richtet sich die Witwe mit einer Botschaft an ihr Land: „Ich werde Alexejs Arbeit fortführen“, verspricht sie. Sie habe ihn immer unterstützt: bei Wahlen, Kundgebungen, Hausdurchsuchungen, Festnahmen, als er ins Gefängnis kam, vergiftet wurde, wieder ins Gefängnis kam. „In all den Jahren war ich froh, an seiner Seite zu stehen. Aber heute will ich an eurer Seite stehen. Weil ich weiß, dass ihr nicht weniger verloren habt als ich.“
Nawalnaja verbirgt ihren Schmerz nicht. Ihre Stimme bebt, während sie zum russischen Volk spricht. Aber sie zeigt keine Schwäche. „Wir sollten Putin besiegen, seine Freunde, die Banditen in Schulterklappen, die Diebe und Mörder, die unser Land zerstört haben.“ Sie ruft die Menschen dazu auf, Russland zu dem Land zu machen, von dem Alexej immer geträumt hat – „ein freies, friedliches, glückliches Russland“.
Die Frau, die sich mit einem der mächtigsten Männer der Welt anlegt, hat sich nie als Politikerin bezeichnet. Sie sah sich immer als Ehefrau und Mutter von zwei Kindern. Dabei hatte ihr Mann stets betont, dass er den Kampf gegen den Kreml und Putin ohne sie nie durchgehalten hätte. Nun will sie den Platz des bekanntesten Regimekritikers Russland einnehmen.
Die studierte Wirtschaftswissenschaftlerin arbeitete früher für eine Moskauer Bank. Als Nawalny als Oppositionspolitiker bekannt wurde, gab sie ihren Job auf, um sich um die Kinder zu kümmern. Das Paar hatte sich mit 22 Jahren im Urlaub in der Türkei kennengelernt. Nawalny erzählt später, dass er schon im ersten Moment ihrer Begegnung wusste, dass er sie heiraten wolle. Die beiden haben sich nie gescheut, ihre Liebe in der Öffentlichkeit zu teilen. Sie bezeichnete Alexej als ihre „echte große Liebe“ und „besten Freund“ zugleich. Wenige Tage vor seinem Tod lässt Alexej am Valentinstag auf Instagram ein gemeinsames Foto veröffentlichen. „Ich spüre, dass du jede Sekunde bei mir bist, und ich liebe dich immer mehr“, schrieb er dazu.
Bis zu dem Giftanschlag im Jahr 2020 war sie die Frau, die Alexej Nawalny den Rücken stärkte, nur hin und wieder in der Öffentlichkeit sprach. Nachdem ihr Mann aber auf einem Flug von Tomsk nach Moskau zusammenbrach, wandte sie sich persönlich an Putin. Nur durch ihre Beharrlichkeit wurde die Verlegung Nawalnys an die Berliner Charité möglich gemacht – wo der russische Nervenkampfstoff Nowitschok nachgewiesen wurde.
Als Nawalny wieder auf den Beinen war, entschied er mit seiner Frau, nach Russland zurückzukehren. Beide wussten, was auf sie zukommt. Im Januar 2021 wurde Alexej Nawalny noch am Flughafen festgenommen. Julija Nawalnaja erklärte damals vor laufenden Kameras, dass die russischen Behörden ihren Mann aus Angst festgenommen hätten. „Alexej sagte, dass er keine Angst hat“, sagte sie. „Und ich habe auch keine Angst. Und ich fordere euch alle auch dazu auf, keine Angst zu haben.“ Vor dem Flughafen jubelten ihr Nawalnys Unterstützer zu, skandierten ihren Namen. Seither ging sie regelmäßig für die Freilassung ihres Mannes auf die Straße.
„Ich weiß und spüre, wie sehr ihr wissen wollt, warum er zurückgekommen ist“, sagt sie nun in ihrer Video-Botschaft. „Warum würde er sich freiwillig in die Hände derer begeben, die ihn einmal fast getötet haben?“ Schließlich hätte er ein normales Leben mit ihr und ihren Kindern führen können. „Aber das konnte er nicht.“ Alexej habe Russland „mehr als alles andere auf der Welt“ geliebt.
„Indem er Alexej getötet hat, hat Putin die Hälfte von mir, die Hälfte meines Herzens und die Hälfte meiner Seele getötet.“ Aber sie habe immer noch die andere Hälfte, sagt sie – und die sage ihr, dass sie nicht das Recht habe aufzugeben. „Schweigt nicht, kämpft weiter, geht zu den Kundgebungen.“ Sonst sei Alexej umsonst gestorben.