„Wir zehren vom Mut der Ukrainer“

von Redaktion

INTERVIEW Der Renovabis-Chef über Hilfen, Waffen und den Preis eines falschen Friedens

Freising – Am Samstag ist es zwei Jahre her, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Einer, der das Leid der Menschen mit eigenen Augen gesehen hat, ist Thomas Schwartz. Der Geschäftsführer von Renovabis, dem Osteuropahilfswerk der katholischen Kirche, sagt, warum Waffenlieferungen nicht einzige Lösung sein können und Aufgeben keine Option ist.

Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine jährt sich zum zweiten Mal. Wo haben Sie damals vom Angriff erfahren?

Uns war aufgrund unserer Partner in der Ukraine wie der Caritas schon vor zweieinhalb Jahren klar, dass eine Militäraktion kommen wird, wovor wir auch gewarnt hatten. Doch auch ich habe nicht vermutet, dass es zu einem Angriffskrieg in dieser Dimension kommen wird. Ich war in Rom damals, das weiß ich noch genau, weil ich am Tag davor dem Radio Vatikan ein Interview gegeben habe. Meine Sorge um die Ukraine habe ich dort geäußert. Morgens um halb 6 am 24. Februar bin ich dann von einem Renovabis-Partner in der Ukraine von einer Whatsapp-Nachricht geweckt worden, in der es hieß: „Sie kommen.“ Ich habe sofort den Fernseher angemacht. Ich war fassungslos und erschüttert. Den Tag werde ich nicht vergessen.

Ganz Europa war schockiert. Die Spendenbereitschaft war riesig. Haben Sie das Gefühl, dass das Interesse am Schicksal der Menschen dort nach zwei Jahren verblasst ist?

Wir bei Renovabis merken, wie schwer es ist, die Aufmerksamkeit weiter auf diesen Krieg und damit auf nötige Hilfen zu lenken. Weil sich die Bürger an den Krieg zu gewöhnen scheinen. Länger dauernde Konflikte verschwinden mit der Zeit aus dem Bewusstsein der Bevölkerung. Doch das darf nicht sein. Wir dürfen trotz der vielen Kampfhandlungen, die uns in den Medien begegnen, nicht kriegsmüde werden.

Was sollten wir uns stattdessen bewusst machen?

Die Not – der Krieg – ist weiter da. Täglich sterben nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten. Täglich verlieren Kinder ihre Eltern, täglich wird die Infrastruktur bombardiert, und das Land zerstört. Wir dürfen uns daran nicht gewöhnen, dass dies mitten in Europa passiert. Wir müssen uns vor Augen führen: Ukraines Grenze ist nicht weiter weg als Spanien von uns. In Spanien machen wir Urlaub, in der Ukraine geht es für Menschen in den Luftschutzkeller. Trotz alledem kann ein fauler Frieden nicht die Lösung sein.

Dieser „faule Frieden“ wie sähe der aus, und was wären die Folgen daraus?

Frieden um jeden Preis würde für mich bedeuten, dass die Ukraine gezwungen würde, auf Territorien zu verzichten und sich in gewisser Weise zu neutralisieren. Damit müsste sie das Ziel der Bevölkerung aufgeben, zur europäischen Familie dazu zu gehören. Das würde die Botschaft senden, dass jeder Machthaber, dem die Politik des Nachbarlandes missfällt, mit Waffen einmarschieren darf und sich einen Happen dieses Landes nehmen kann, und das ohne Konsequenzen. Das wäre der Samen des nächsten Krieges. Denn damit würde jeder Machthaber, auch Putin, Anreize sehen, sich neu aufzurüsten und beispielsweise das nächste Stück der Ukraine oder des Baltikums oder gar Polens einzufordern.

Wie sähe also ein echter Frieden aus?

Ein gerechter Friede ist ein Friede, der die Opfer wahrnimmt und das internationale Recht akzeptiert. Es würden Demokratie und Freiheit vorherrschen, und für die Ukraine würde ein Platz in der Europäischen Völkerfamilie gefunden werden. Zudem würden Kompensationen für das unglaubliche Leid gefunden werden.

Was sollte also getan werden, damit dieser Friede, den Sie beschreiben, erreicht werden kann?

Ich denke, der deutschen Regierung und dem Parlament, den demokratischen Parteien, ist bewusst, dass sie die Ukraine massiv, auch wirtschaftlich unterstützten müssen. Und ich bin dankbar, dass es diese Einheit der Überzeugung gibt. Man muss alles dafür tun, dass die Ukraine in ihrer Infrastruktur und der Wirtschaft nicht zusammenbricht. Wir haben da auch ein eigenes Interesse daran.

Was für ein Interesse?

Wenn die Menschen nicht von dem leben können, was sie selbst produzieren, dann haben sie keine Möglichkeit mehr, dort zu leben, und werden fliehen. Dann kommen auf uns wieder mehr Flüchtlinge zu. Das ist in niemandes Interesse. Menschen müssen vor Ort eine Zukunft haben. Renovabis macht sehr viel dafür. Wir organisierten zum Beispiel bisher 700 Stipendien an Studierende, damit sie trotz fehlendem Einkommen ihr Studium finanzieren können, damit sie eine Zukunft in ihrem Leben und ihrem Land sehen. Wir helfen, Schulen aufzubauen, damit Kinder und Familien in ihrer Heimat bleiben können. Wir unterstützen Pfarreien vor Ort, damit sie weiter für die Leute vor Ort da sein können. Wir helfen beim Unterhalt von Krankenhäusern, in die auch Soldaten und verwundete Zivilisten gebracht werden. Wir führen viele Gespräche mit Wirtschaft und Politik vor Ort, damit im Land weiter investiert wird. Wir bauen stetig unser Netzwerk mit Partnern in der Ukraine aus.

Doch das finanziert sich nicht von selbst.

Natürlich müssen wir stets appellieren an Leute, Geld zu spenden. Denn Projekte werden leider nicht billiger, sie werden eher immer größer und teurer. Preise sind nicht nur in Deutschland gestiegen.

Worauf liegt der Fokus?

In der Ukraine gibt es millionenfache Traumatisierungen. Was wir in nächster Zeit deshalb stark unterstützen, ist die psychosoziale Begleitung für Traumabewältigung von Erwachsenen und Kindern. Ich war im November in der Ukraine und habe Familien besucht. Bei einem Besuch ist es kurz laut geworden, da ist das Kind aus Angst vor Bomben direkt unter den Tisch, um sich zu verstecken. Genau deshalb müssen wir helfen. Außerdem unterstützen wir Partner vor Ort gerade, Reha-Programme zu entwickeln, die Kriegsversehrte ganzheitlich begleiten. Denn eine Fußprothese allein reicht oft nicht aus, sie müssen sich auch seelisch wieder wie ein ganzer Mensch fühlen.

Wir haben viel darüber gesprochen, was die Regierung tun kann, wie Sie helfen. Was erwarten Sie vom Bürger, was er für die Ukrainer tun kann?

Ja zu sagen zum Recht der Ukraine, sich und ihre Freiheit zu verteidigen. Ja zu sagen zu den Menschen, die hergekommen sind, ja zu sagen, wenn sie Arbeit suchen. Bürger sollten die Willkommenskultur weiter so pflegen, wie sie im ersten Jahr des Krieges den Ukrainern entgegengebracht wurde. Und jeder sollte sich stets ins Gedächtnis rufen, dass dieser Konflikt mitten in Europa stattfindet.

Unter anderem auf der Münchner Siko war der Tenor: Der Westen muss mehr Waffen und mehr Geld dafür liefern. Wie sehen Sie das als Geistlicher und Renovabis-Chef?

Für uns als kirchliches Werk ist es nicht die erste Aufgabe, Waffenlieferungen gutzuheißen oder zu fördern, sondern den Menschen vor Ort beizustehen. Aber ich kann persönlich den Ruf nach Waffen nachvollziehen. Es ist internationales Recht, dass sich ein Land gegen einen Angriff verteidigen darf. Ebenso ist erlaubt, dass andere Staaten das angegriffene Land dabei unterstützen.

Sie waren selbst in der Ukraine. Was haben Sie für einen Eindruck von den Menschen vor Ort?

Zum einen ist da eine große Traurigkeit, denn Tod und Zerstörung sind allgegenwärtig. Doch da ist auch ein unglaublicher Wille, sich und die Demokratie zu verteidigen. Viele sagen mir, dass der Krieg sie nur weiter anstachelt, sich für ihre Freiheit und für die Integration in die europäischen Strukturen einzusetzen. Denn viele haben Angst, wenn sie jetzt aufgeben, geht der Krieg und die Gewalt in anderer Form weiter. Und von diesem ungebrochenen Mut unserer Partner und aller Ukrainer zehren wir. Er gibt uns Energie, weiter zu helfen.

Interview: Miriam Kohr

Spenden

Renovabis, das Osteuropa-Hilfswerk der Katholischen Kirche in Deutschland, mit Sitz in Freising, arbeitet mit Diözesen, kirchlichen Nichtregierungsorganisation, Pfarreien, Caritas, Akademien und Universitäten in 29 Ländern zusammen, um Menschen vor Ort mit Geldern zu unterstützen – auch in der Ukraine. Spendenkonto: IBAN: DE24 7509 0300 0002 2117 77 (LIGA Bank eG), Internet: www.renovabis.de

Artikel 6 von 11