Die Mutter des im russischen Straflager gestorbenen Kreml-Kritikers Alexej Nawalny hat Zugang zu seiner Leiche erhalten. Die bleibt aber unter Verschluss. Ludmilla Nawalnaja darf ihren Sohn bisher nicht begraben.
In dieser Woche ging ihr Bild um die Welt. In tiefer Trauer, eingehüllt und mit Sonnenbrille, steht sie vor dem Stacheldraht des Straflagers, in dem ihr Sohn gestorben ist. Das erinnert fast an Maria mit den Frauen vor dem Kreuz, die den Leichnam von Christus empfangen. Hunderte von russisch-orthodoxen Geistlichen der regimetreuen Staatskirche haben daher gefordert, den Leichnam des Kreml-Kritikers freizugeben: „Denken Sie daran, dass vor Gott alle gleich sind. Zeigen Sie Barmherzigkeit und Mitgefühl für seine Mutter.“
Die Gnade der Bestattung geht in der abendländischen Kultur zurück bis in die griechische Welt. So wie Ludmilla Nawalnaja vor den russischen Beamten, so stand Antigone, die Tochter des Ödipus, vor ihrem Onkel Kreon, dem Tyrannen von Theben. Sie will ihren Bruder begraben, der erschlagen vor den Mauern der Stadt liegt. Kreon droht ihr mit dem Tod, wenn sie es tut, denn Polyneikes war ein Feind der Stadt. Der Hass des Kreon dauert über den Tod hinaus.
Antigone aber schleudert Kreon den berühmtesten Satz der griechischen Tragödiendichtung entgegen: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben sind wir da!“ Sie streut Erde auf den Leichnam ihres toten Bruders und opfert dafür ihr Leben. Zu spät sieht Kreon, dass damit auch sein Schicksal besiegelt ist, weil er ein Gebot der Humanität überschritten hat.
Noch weiter zurück geht der Gesang von Homer über Hektors Tod. Nachdem Achill diesen Sohn des Priamos erschlagen hat, schleift er dessen Leichnam um den Scheiterhaufen, der für seinen toten Freund Patroklos errichtet worden war. Da macht sich nun Priamos auf, der greise König von Troja. Barfuß und nur mit einem Schurz bekleidet geht er in das Zelt des Achill. Er fällt vor seinem Erzfeind auf die Knie und bittet um den Leichnam seines Sohnes Hektor. Was nun kommt, ist der berührendste Augenblick in der ganzen antiken Literatur. Die beiden Feinde sehen sich ins Auge und erkennen ihre gegenseitige Trauer, der eine um seinen Freund, der andere um seinen Sohn. Dieses Gefühl ist so stark, dass es die Feinde vereint. Und da kommt ein Moment, da hätten sie sich beinahe umarmt im Wissen um die Sinnlosigkeit des Krieges. Es gibt niemanden, der von der Gottheit der Trauer so erfüllt worden ist wie sie. Das vereint beide. Achill gibt die Leiche des Hektor frei. Damit endet die Ilias.
Wir aber stehen heute in vielen Ländern der Welt Herrschaftssystemen gegenüber, die keine Scheu haben, überall die Wurzeln abendländischer Humanität anzurühren. Und wir im Westen sind wegen der Blindheit von Politikern und Geschäftemachern nicht ohne Schuld an dieser Entwicklung. Möge Gott uns gnädig sein.
Schreiben Sie an:
ippen@ovb.net