Man darf sich keine allzu großen Hoffnungen machen: Die Vorstellung, dass der Tod Nawalnys den Russen die Augen öffnet, eine Art Revolte unter Putin-Gegnern auslöst, ist romantisch – aber nicht wirklich realistisch. In Russland gegen Putin auf die Straße zu gehen, erfordert großen Mut. Die Menschen, die für Nawalny Blumen niederlegen, die morgen an seiner Trauerfeier in Moskau teilnehmen werden, riskieren ihre Freiheit für eine Geste des Widerstands. Aber sie sind zu wenige. Sie gehören keiner größeren Bewegung an, lassen sich kaum mobilisieren – vor allem nicht von Oppositionellen, die entweder ins Exil oder in Straflager verbannt wurden.
Nawalny war vielleicht das Gesicht der Opposition, aber er war nie ihr Anführer. Weil es lange keine Opposition mehr anzuführen gibt: Seit den frühen Nullerjahren wird keine Kreml-kritische Partei mehr ins Parlament gelassen. Andere, ernstzunehmende Regimekritiker haben es nie geschafft, sich gemeinsam zu organisieren – heute besteht die russische Opposition nur noch aus prominenten Einzelstimmen, die wie Chodorkowski oder Kasparow aus dem Ausland agieren. Putins Sturz kann nicht ihnen überlassen werden. Viel wichtiger ist, dass er den Krieg gegen die Ukraine verliert. Das ist derzeit die einzig greifbare Chance, um ihn zu stoppen. Und hier hat der Westen mit seiner Unterstützung durchaus Handlungsspielraum – ganz im Gegensatz zu der russischen Opposition.
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