Plötzlich will er Friedenskanzler sein

von Redaktion

VON MIKE SCHIER UND CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

München/Berlin – Die historische Stunde der großen Weltpolitik schlägt ausgerechnet am Opernplatz in Hannover. 5. August 2002. Mitten im Hochsommer ruft Gerhard Schröder die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs aus – die SPD hat sie um 18 Tage vorverlegt. Aus purer Not: In Umfragen liegt die Union mit Kandidat Edmund Stoiber sechs Prozentpunkte vorn.

In der Hitze hören 5000 Menschen Schröder geduldig, aber auch etwas gelangweilt zu. Erst als der Bundeskanzler nach mehr als 20 Minuten auf die Gefahr eines US-geführten Einmarsches im Irak zu sprechen kommt, wird es laut. „Wir sind zu Solidarität bereit. Aber dieses Land wird unter meiner Führung für Abenteuer nicht zur Verfügung stehen.“ Der Kanzler hat den Nerv getroffen – und das Thema gefunden, das die Wende bringt: Im September gewinnt die SPD mit 8864 Stimmen Vorsprung.

Geschichte wiederholt sich – diese jedenfalls. Derzeit sieht viel danach aus, als wolle Olaf Scholz den Wahlkampf-Kurs von Schröder 22 Jahre später kopieren, vor allem mit Blick auf die Wahlen für Europa (Juni) und im Osten (September). Vor wenigen Wochen noch pries er die Waffenlieferungen an die Ukraine, ließ sich in einem Munitionswerk ablichten. Nun die steile Wende: Auffällig betont er sein Nein zu Taurus-Lieferungen an die Ukraine. Anfang der Woche traf der Bundeskanzler in Berlin dutzende deutsche Chefredakteure zu einem Hintergrundgespräch – seine Sätze, warum er sich gegen die Lieferung des deutschen Waffensystems sträubt, wollte er indes explizit zitieren lassen.

Er legte dann eine Videobotschaft nach mit einer Absage an Nato-Bodentruppen in der Ukraine – eine dankbare Vorlage des Franzosen Macron. „Keine deutsche Kriegsbeteiligung – das gilt“, sagte er ernst in die Kamera. Am Donnerstagabend bei einem Bürgerdialog in Dresden griff er sogar den Slogan „Diplomaten statt Granaten“ auf. Ein Bürger hatte ihm diesen Spruch hingehalten. Scholz machte ihn sich nicht ganz zu eigen, sagte aber, man müsse das an Putin richten. Das wolle man „gemeinsam skandieren Richtung Kreml“.

Wird aus dem Kanzler, der erst die Zeitenwende ausrief, dann aber bei Waffenlieferungen stets zögerte, nun der besonnene Lenker? Abgeordnete der auf 15 Prozent abgesackten SPD frohlocken offen über strategische Vorteile. „Olaf Scholz stellt die Zeitenwende in die Tradition der Friedenspartei SPD“, sagte der SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer dem „Tagesspiegel“. „Wir werden den Bürgern sagen: Wir sind die Friedenspartei SPD, wir haben einen Friedenskanzler.“ Scholz’ Leute sagen im kleinen Kreis seit Monaten, dass sie die große Mehrheit der Bevölkerung nicht im Hurra-Lager für Waffenlieferungen vermuten. Ralf Stegner vom ganz linken SPD-Flügel verbreitet mit Erinnerung an 2002, unter einem anderen Kanzler „wären wir womöglich längst Kriegspartei“.

Scholz kennt die Historie. Schon 2002 gehörte er zum engeren Führungszirkel der SPD, nach der Wahl wurde er sogar Schröders Generalsekretär. Als im März 2003 der Vormarsch der US-Truppen begann, schrieb er in dieser Funktion an die Parteimitglieder: „Dies ist ein Rückschlag für unsere Bemühungen um eine friedliche Lösung. Es ist keine Widerlegung unserer Friedenspolitik. Wir werden uns nicht entmutigen lassen.“

Für die Union ist die Linie des Kanzlers strategisch heikel. 2002 widersprach sie offen. Die junge Angela Merkel veröffentlichte einen Beitrag in der „Washington Post“: „Schröder spricht nicht für alle Deutschen.“ Erfolgreich war das nicht. Heute beobachten CDU und CSU Scholz’ Schritte genau. Sie arbeiten lustvoll interne Ampel-Widersprüche heraus. Der sehr populäre Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) prägte die Formel, Deutschland müsse „kriegstauglich“ werden. FDP-Wehrpolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann stimmte sogar für den Taurus-Antrag der Union. Und sollte sich die Lage in der Ukraine dramatisch wenden, Putin plötzlich in Kiew stehen, stünde Scholz nackt da.

Immerhin Schröder hätte er aber auf seiner Seite. Doch der spielt in der Russland-Politik eine sehr traurige Rolle. Die Mehrheit der Deutschen, die er 2002 noch auf seiner Seite wusste, hat sich längst von ihm abgewandt.

Artikel 1 von 11