Moskau – Trotz massivem Polizeiaufgebot und Repressionen im Vorfeld sind tausende Menschen in Moskau zur Beerdigung von Kremlgegner Alexej Nawalny gekommen. „Nawalny, Nawalny“, rufen sie, als der Sarg mit Russlands populärstem und vor zwei Wochen im Straflager verstorbenem Oppositionspolitiker in die Kirche zu Ehren der Gottesmutterikone „Lindere meine Trauer“ getragen wird. Immer wieder wird geklatscht, viele weinen. Später schlagen die Trauerbekundungen zwischenzeitlich sogar in offene Anti-Kreml-Proteste und Anti-Kriegs-Proteste um – der ersten derartigen Kundgebung seit langer Zeit.
Schon im Vorfeld ist die Stimmung angespannt. „Ich hatte Angst zu kommen, aber Nawalny war ein Symbol für Furchtlosigkeit“, sagt der 20-jährige Artjom. Nun wolle er sein Andenken ehren. Der Student steht mit roten Blumen in der Menge.
Rentnerin Alla hat weiße Nelken dabei. Auch sie hat Sorgen. Sie befürchtet, dass nach Provokationen Verhaftungen losgehen. „Ich habe immerhin schon zwei Ordnungsstrafen erhalten, bei der dritten buchten sie mich ein.“ Tatsächlich kreisen die Gefängnistransporter immer wieder um die Menge, die stundenlang ausharrt. Viele sind gut zwei Stunden vor der geplanten Trauerfeier zur Kirche gekommen. Die Schlange zieht sich über mehrere Straßenzüge hinweg. Mit der Invasion, die laut Kremlchef Wladimir Putin angeblich fast das ganze Volk unterstützt, ist hier keiner einverstanden. „Und wir sind deutlich mehr als die von der Propaganda verhöhnten angeblichen zwei Prozent“, versichert Artjom.
Die Verabschiedung von Nawalny läuft streng nach Plan, nachdem am Morgen die Mitarbeiter der Leichenhalle zunächst gezögert hatten, seine Leiche herauszugeben. Am frühen Nachmittag trifft der Transporter mit dem braunen Sarg dann doch pünktlich vor der Kirche ein.
In der Kirche liegt der Leichnam Nawalnys im offenen Sarg, von Blumen bedeckt, umgeben von zahlreichen Menschen während des Gottesdienstes. Zu sehen ist auch Nawalnys Gesicht. Seine Mutter Ljudmila Nawalnaja, die um die Herausgabe ihres Sohnes gekämpft hatte und eine Kerze in der Hand hält, und sein Vater sitzen während der Zeremonie am Sarg.
Auf dem Weg zum zu Fuß rund eine halbe Stunde entfernten Borisowski-Friedhof wird die Stimmung dann immer angespannter. Längst sind die Losungen, die die Menge skandiert, hochpolitisch geworden. „Russland ohne Putin“, „Putin ist ein Mörder“ und „Nein zum Krieg“ sind nur einige von ihnen. Die Polizei bringt sich mit Gefangenentransportern in Stellung, lässt die Demonstranten aber erst einmal gewähren. Am Ende des Tages berichten Bürgerrechtler jedoch von landesweit mindestens 128 Festnahmen.
Die Witwe Julia Nawalnaja, die Tochter Darja und der Sohn Sachar nehmen nicht an der Trauerfeier teil, weil sie zur eigenen Sicherheit im Ausland sind. Aus der Ferne verabschiedet sich Julia per Videoclip mit einer bewegenden Liebesbotschaft mit markanten Szenen des gemeinsamen Lebens von ihrem Mann. „Ljoscha, ich danke dir für 26 Jahre absolutes Glück. Ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll, aber ich werde mein Bestes geben, damit du dich da oben für mich freust und stolz auf mich bist.“