München – Spätsommer 2014. Die Krim-Annexion liegt ein halbes Jahr zurück. US-Präsident Barack Obama appelliert seit Monaten an die europäischen Nato-Staaten, ihre Militärausgaben zu erhöhen. Beim Gipfel in Wales stimmen die Verbündeten – eher widerwillig – zu, künftig zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. So richtig ernst meint das aber niemand. Russland gilt kaum als reale Bedrohung für Europa. Heute, ein Jahrzehnt später, sieht man das völlig anders: Inzwischen wird über Atomwaffen, Angriffe aufs Baltikum und Nato-Bodentruppen in der Ukraine gestritten. Und trotzdem: Die große Mehrheit der Bündnisstaaten hat das Zwei-Prozent-Ziel wieder verfehlt.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bemüht sich, nicht zu rüffeln, als er gestern den neuen Jahresbericht für das Jahr 2023 vorstellt. „Die Welt ist zwar gefährlicher, aber die Nato ist stärker geworden“, sagt er. Das stimmt einerseits – denn die gesamten Verteidigungsausgaben sind im Vergleich zu 2022 um elf Prozent gestiegen. Dennoch haben nur elf der 31 Mitgliedstaaten das Zwei-Prozent-Ziel erreicht. Dazu gehören allen voran Polen (3,92), die USA (3,24) und Griechenland (3,05). Deutschland hingegen liegt mit 1,66 Prozent auf Platz 17, noch hinter Albanien und Bulgarien.
So langsam scheint aber die Mehrheit der Nato-Länder den Ernst der Lage erkannt zu haben. „18 Mitglieder werden dieses Jahr das Zwei-Prozent-Ziel erreichen“, lobt Stoltenberg. Doch seit dem Ukraine-Krieg ist man sich innerhalb der Nato längst nicht mehr einig, ob das überhaupt noch reicht. Polens Präsident Andrzej Duda hatte erst kürzlich bei US-Präsident Joe Biden darauf gepocht, dass die Nato-Staaten künftig zu Verteidigungsausgaben von drei Prozent des BIP verpflichtet werden sollten. Das Zwei-Prozent-Ziel sei vor zehn Jahren noch angemessen gewesen – jetzt brauche man aber mehr, um sich gegen Russland wehren zu können.
Deutschland dürfte mit dieser Zielmarke allerdings Schwierigkeiten bekommen. Nachdem die Bundesregierung vor wenigen Wochen stolz nach Brüssel vermeldet hatte, heuer erstmals nach drei Jahrzehnten wieder die BIP-Quote von zwei Prozent zu knacken, steht das Ziel fürs kommende Jahr schon wieder infrage. Am Wochenende erklärte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), dass im Wehretat für 2025 etwa 4,5 bis 6 Milliarden Euro für das Zwei-Prozent-Ziel fehlen würden. Die Finanzplanung von Minister Christian Lindner (FDP) sieht ein Volumen von 52 Milliarden Euro für die Bundeswehr vor – das reiche nicht. Dazu kommt, dass für den Haushalt 2025 generell wieder zähe Verhandlungen erwartet werden und sich die Regierung nicht einig darüber ist, ob sie das Bundeswehr-Sondervermögen ausweiten oder die Verteidigungsausgaben aus dem regulären Haushalt finanzieren soll.
Die Verteidigungsausgaben der einzelnen Länder rücken auch deshalb so in den Fokus, weil eine Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus bevorstehen könnte. Der Ex-Präsident hatte zuletzt klargemacht, dass er Bündnispartnern mit geringen Verteidigungsausgaben im Falle eines russischen Angriffs keine Unterstützung gewähren würde.
Stoltenberg versucht deshalb, den Zusammenhalt der Nato wieder stärker hervorzuheben: „Putin hat den Krieg losgetreten und wollte damit die Nato-Tür zuschlagen.“ Damit sei er gescheitert – Finnland und Schweden seien daraufhin der Nato beigetreten, und die Ukraine sei der Nato „näher als je zuvor“. Es wäre ein „historischer Fehler, Putin zu erlauben, den Sieg davonzutragen“, sagt er. „Der Ukraine mangelt es nicht an Mut, sondern an Munition.“