Moskau/Berlin – Die Bilder aus Russland erwecken erst mal den Eindruck, als könnten es die Bürger gar nicht erwarten, ihren Präsidenten zum fünften Mal wiederzuwählen: Lange Schlangen haben sich am Sonntag vor den Wahllokalen gebildet, in Städten wie St. Petersburg und Moskau standen zur Mittagszeit teils hunderte Menschen draußen im Regen, um für ihr Kreuz anzustehen. Tatsächlich sind die Menschenansammlungen aber eine stille Form des Protests gegen die Scheinwahlen in Russland: Regimegegner hatten im Vorfeld dazu aufgerufen, am dritten Wahltag um genau zwölf Uhr mittags zu den Wahllokalen zu kommen. Ein friedliches Zeichen des Widerstands, das Putin-Gegnern zeigen sollte: Ihr seid nicht allein.
Der Petersburger Oppositionspolitiker Maxim Resnik hatte die Aktion „Mittags gegen Putin“ ins Leben gerufen. Auch Kreml-Kritiker Alexej Nawalny hatte noch kurz vor seinem Tod zur Teilnahme aufgerufen. Nicht nur im Inland, auch vor russischen Botschaften in etlichen europäischen Hauptstädten bildeten sich gestern lange Schlangen.
Überraschend reihte sich gestern Nawalnys Witwe Julia Nawalnaja zur Stimmabgabe vor der russischen Botschaft in Berlin ein. Dort haben ihr mehrere Wartende Blumen überreicht. „Julia, wir sind mit dir“, ertönte ein Ruf aus der Menge, dann betrat sie das Gebäude. Als sie wenige Minuten später die Botschaft wieder verließ, erzählte sie: „Natürlich habe ich Nawalny geschrieben.“ Die Witwe des Kremlkritikers hatte auch die russischen Wähler zuvor dazu aufgefordert, für einen der (chancenlosen) Gegenkandidaten Putins zu stimmen oder den Wahlzettel mit dem Schriftzug „Nawalny“ ungültig zu machen.
Bereits an den ersten beiden Wahltagen hatte es verschiedene Protestaktionen in russischen Wahllokalen gegeben. Wähler schütteten Farbstoff in Urnen, um Stimmzettel ungültig zu machen. In der Folge gab es zahlreiche Festnahmen wegen „Vandalismus“. Die Behörden hatten wiederholt vor der Teilnahme an Wahlprotesten gewarnt und mit Strafen gedroht.
„Das ist die letzte Form des Protests, bei der du dich frei ausdrücken kannst“, sagte der 29-jährige IT-Spezialist Alexander, der sich am Sonntag um zwölf Uhr vor Nawalnys früherem Wahlbüro in Moskauer Bezirk Marjino eingefunden hatte. „Wenn ich das nicht getan hätte, hätte ich mich wie ein Feigling gefühlt“, betonte er.
In Russland wurden Bürgerrechtlern zufolge bis zum Nachmittag mehr als 70 Menschen festgenommen – die meisten davon in der Stadt Kasan. Auch Menschen in Moskau und St. Petersburg kamen vorübergehend in Gewahrsam.
Mit der Scheinwahl sichert sich Wladimir Putin sechs weitere Jahre als Staatschef. Oppositionelle Politiker waren entweder nicht als Kandidaten zugelassen, sind ins Ausland geflohen oder sitzen im Gefängnis. Putins drei Mitbewerber galten als reine Staffage, die ihn entweder direkt unterstützten oder zumindest auf Kreml-Linie sind.
Darüber hinaus organisierte Moskau völkerrechtswidrig Urnengänge in besetzten Gebieten der Ukraine. Unter anderem deshalb bezeichnen unabhängige Beobachter die Abstimmung als Farce und rufen die internationale Gemeinschaft dazu auf, das Ergebnis nicht anzuerkennen.
Russlands Wahlkommission hat Putin bereits gestern Abend ein Ergebnis von vorläufig knapp 88 Prozent der Stimmen zugesprochen. Das Staatsfernsehen erklärte den 71-Jährigen schon vorher auf Grundlage von Wählernachbefragungen mehrerer Kreml-naher Institute zum Sieger. Die offiziellen Resultate sollen heute bekannt gegeben werden. In der Regel stimmen die Prognosen aber mit dem am Ende verkündeten Ergebnis überein. Es wäre ein Rekord für Putin, der 2018 auf 76,7 Prozent der Stimmen kam. Auch die Wahlbeteiligung wurde mit mehr als 74 Prozent angegeben, dem höchsten Wert jemals bei einer russischen Präsidentenwahl.