München – Es ist Tag 758 des Ukraine-Kriegs, als der Kreml erstmals Klartext spricht. „Im Grunde genommen hat sich dies für uns in einen Krieg verwandelt, nachdem der kollektive Westen eingegriffen hat“, erklärt Putin-Sprecher Dmitri Peskow am Freitag bei einer Pressekonferenz. Die Aufregung ist groß. Kurz zuvor hatte die regierungsfreundliche Wochenzeitung „Argumenty i Fakty“ ein Interview mit Peskow veröffentlicht. Darin spricht er erstmals an, was außerhalb Russlands schon lange klar ist: Man befinde sich „in einem Kriegszustand“, sagt der 56-Jährige.
Als sich Peskow später den Fragen der Journalisten stellt, merkt man, dass der Kreml-Sprecher mit seinen Aussagen Verwirrung gestiftet hat: Warum Menschen immer noch bestraft würden, wenn sie öffentlich von einem Krieg statt einer Militäroperation sprechen, fragt ein Mann – insbesondere die Parole „Nein zum Krieg“ werde ja streng verfolgt. Peskow wimmelt ab. „Das ist ein völlig unpassender Vergleich“, antwortet er. Das Wort „Krieg“ werde hier in „unterschiedlichen Kontexten“ verwendet.
Dem Kreml-Sprecher passen solche regierungskritischen Fragen gar nicht in den Kram. Denn seine Botschaft sollte lauten, dass der Westen Russland in einen Krieg gezogen hat. „Sobald die Clique da entstanden ist“, erklärt Peskow, „da wurde es für uns zum Krieg.“ Und: „Jeder sollte das für die innere Mobilisierung verstehen.“
Vor allem diese Aussage dürfte vielen Russen einen Schreck verpasst haben – denn erst im September vergangenen Jahres wurde den Bürgern versprochen, dass es in Russland keine weitere Mobilmachung geben werde. Es gebe ausreichend Freiwillige, die bereit wären, in die Ukraine zu gehen.
Doch inzwischen gehen Russland die Soldaten aus. Gleich nach der Veröffentlichung des Peskow-Interviews hat das Kreml-kritische Nachrichten-Portal „Werstka“ berichtet, dass das russische Verteidigungsministerium erneut eine „massive Rekrutierung in die Armee“ plane. Man wolle mindestens 300 000 weitere Menschen in den Krieg schicken, heißt es unter Berufung auf anonyme Quellen in der Präsidialverwaltung und im Verteidigungsministerium. Die Rede ist von einer „Mobilisierung 2.0“, bei der man Wehrpflichtige „mit allen Mitteln“ dazu überreden wolle, einen Vertrag zu unterschreiben.
Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja glaubt, dass der Kreml seine Bürger nun mental auf eine Mobilisierung vorbereiten will. Der russischen Exil-Zeitung „Meduza“ sagt sie, dass Peskow eine „psychologische Schwelle“ überschreite, indem er nun von einem Krieg spricht. Damit sollen sowohl „die Bevölkerung als auch die Eliten stärker zur Verantwortung gezogen werden als während der speziellen militärischen Operation“, meint die Russin.
Auf Nachfragen präzisierte Peskow später, dass Russland zwar faktisch im Krieg sei, juristisch aber den Status einer „militärischen Spezialoperation“ behalte. Sollte Russland tatsächlich das Kriegsrecht ausrufen, könnte das nicht nur eine Generalmobilmachung begründen – für die russische Bevölkerung könnte das auch gravierende Einschränkungen wie etwa Ausgangssperren bedeuten. Auf nationaler Ebene ist das bislang noch nicht geschehen, in den vier teilweise besetzten ukrainischen Gebieten Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja gilt Kriegsrecht aber schon seit Herbst 2022.