München/Berlin – Wolfgang Schäuble hat die Szene nie vergessen. „Wie einem Schulmädchen“ habe der damalige bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer der Kanzlerin auf dem CSU-Parteitag 2015 die Leviten gelesen, schreibt der verstorbene CDU-Politiker in seinen postum veröffentlichten Memoiren. Dabei hätte Seehofer am 20. November 2015 eigentlich nur einen Blumenstrauß an seinen Gast Angela Merkel überreichen sollen. Am Ende geigte er der versteinerten CDU-Kanzlerin stattdessen 13 Minuten lang mitten auf der Bühne die Meinung über ihre Flüchtlingspolitik. Ein Vorfall, der nicht nur Schäuble im Gedächtnis blieb – auch weil er exemplarisch dafür steht, wie sehr das Thema damals das Verhältnis zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU belastete.
Glaubt man Schäubles Erinnerungen, gab es um 2015 sogar Pläne, Merkel abzusägen. Dabei habe vor allem der Mann Stimmung gegen die Kanzlerin gemacht, dem Merkel 2002 beim sogenannten Wolfratshauser Frühstück die Kanzlerkandidatur überlassen hatte. Edmund Stoiber, der langjährige Ministerpräsident und CSU-Chef, habe Schäuble bedrängt, Merkel zu stürzen und selbst nach der Kanzlerschaft zu greifen. So ist es in Auszügen des Buches zu lesen, die der „Stern“ vorab gedruckt hat. „Inzwischen wurde auch Edmund Stoiber aktiv und feuerte Seehofer, seinen Nach-Nachfolger im Ministerpräsidentenamt, in dessen Attacken gegen Merkel an. Und mich wollte er dazu bewegen, Merkel zu stürzen, um selbst Kanzler zu werden“, brachte der langjährige CDU-Strippenzieher im Rollstuhl vor seinem Tod zu Papier.
Schäuble, der 2015 Finanzminister in Merkels Kabinett war, habe eine solche Revolte aber entschieden abgelehnt, schreibt er selbst. „Wie Jahrzehnte zuvor bei Kohl blieb ich bei meiner Überzeugung, dass der Sturz der eigenen Kanzlerin unserer Partei langfristig nur schaden könnte, ohne das Problem wirklich zu lösen. Das war mein Verständnis von Loyalität, das nach heutigen Maßstäben vielleicht ein wenig antiquiert erscheint.“ Zudem habe ihn die ganze Debatte beinahe amüsiert, schreibt Schäuble. „Weil ich ja mein Alter kannte, seit mehr als einem Vierteljahrhundert querschnittsgelähmt war und insgesamt eine angeschlagene Gesundheit hatte.“
Gleichwohl stand auch Schäuble, dem immer wieder ein teilweise schwieriges Verhältnis zur CSU nachgesagt wurde, Merkels Kurs nicht gänzlich unkritisch gegenüber. „Als die Kanzlerin am 4. September 2015 die im Rückblick für diese Krise zentrale Entscheidung traf, die Grenzen angesichts der katastrophalen Zustände am Bahnhof von Budapest, wo Flüchtlinge zu Tausenden gestrandet waren, weiterhin offen zu halten, fand ich dies aus humanitären und europapolitischen Gründen richtig“, schreibt er. Auch ihren Satz „Wir schaffen das“ habe er unterstützt. Im Unterschied zur Kanzlerin habe Schäuble es aber für richtig gehalten, „den Bürgerinnen und Bürgern reinen Wein einzuschenken und klarzumachen, dass der Einsatz für die Flüchtlinge eben auch mit Kosten und Opfern verbunden ist“. Er sei gelegentlich frustriert darüber gewesen, „dass Merkel in mancherlei Hinsicht beratungsresistent blieb. Nach meiner Einschätzung hätte sie ganz andere Möglichkeiten gehabt, um wirklich politisch zu führen und nicht nur zu reagieren“.
Und was sagt Stoiber zu Schäubles Erinnerungen? Sei es nun bedingt durch dessen vielfältige politische Aufgaben oder auch aufgrund der gemeinsamen Leidenschaft für den FC Bayern: Er habe „mit wenigen Kollegen in meinem Leben so viele persönliche und vertrauliche Gespräche seit den 80er-Jahren bis in die letzten Jahre hinein geführt wie mit meinem langjährigen und eng verbundenen Kollegen Wolfgang Schäuble“, teilt der ehemalige Ministerpräsident auf Nachfrage unserer Zeitung mit. „Berichte darüber habe ich niemals kommentiert und das gilt für mich natürlich auch heute nach seinem Tod weiter“, sagt Stoiber. Ein klares Dementi klingt anders.