Mit Georgien-Fahne: SPD-Außenpolitiker Michael Roth in der Nacht auf Mittwoch bei der großen Demonstration vor dem Parlament in Tiflis. © epa
Dramatische Tage in Georgien: Nach der Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes zur Gängelung der Zivilgesellschaft gehen Hunderttausende auf die Straße. Sie kämpfen gegen Regeln, die sie als „russisches Gesetz“ empfinden. Es sieht unter anderem eine Registrierungspflicht für Organisationen und Medien vor, die zu mindestens 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden. Befürchtet wird die staatliche Unterdrückung prowestlicher Kräfte in der Südkaukasus-Republik. Mitten in der Demo: Michael Roth. Der SPD-Außenpolitiker, Chef des Außenausschusses im Bundestag, war bis gestern in Georgien. Im Interview mit unserer Zeitung spricht er über seine Erlebnisse und die verbliebenen Chancen auf einen EU-Beitritt. Roth, 53, kommt aus Hessen. Er tritt 2025 nicht mehr zur Wahl an.
Zehntausende auf den Straßen von Tiflis, gegenüber schwer bewaffnete Sicherheitskräfte, Gerüchte über einen Parlamentssturm, Sie mittendrin. Hatten Sie in diesem Moment Angst?
Nein, weil mir nur enthusiastische, friedfertige Menschen auf der Straße begegnet sind. Ich weiß aber auch, dass es Gewalt der Sicherheitskräfte gab und gibt. Mir haben Demonstranten eine Skibrille und eine Maske geschenkt – das ist die Grundausstattung gegen Tränengas-Attacken.
Mischt sich nicht auch Aggression, Wut unter die Stimmung auf der Straße?
Natürlich gibt es Wut darüber, wie dieses Gesetz im Parlament durchgepeitscht wurde, im Rechtsausschuss nach nur 67 Sekunden Beratungszeit. Aber in der Zivilbevölkerung lebt die Hoffnung, den Weg in Autoritarismus und Russifizierung noch stoppen zu können. Gerade die vielen jungen Menschen auf der Straße haben aber eine klare Erwartungshaltung an Europa, an den Westen: Steht uns bei! Ohne eure Unterstützung gehen wir hier unter!
Ist das eine Art Maidan 2.0, wir erinnern uns an Kiew?
Ich kann das noch nicht abschätzen. Es wird abhängen von der Klugheit der georgischen Regierungspartei und des Oligarchen Iwanischwili, der im Hintergrund die Fäden zieht. Und davon, ob die EU und die USA mit Klarheit und Druck deutlich machen, dass dieses Gesetz ein Schritt zu weit war. Ich rechne jedenfalls nicht damit, dass es die Demonstrierenden auf Gewalt anlegen.
Sie haben mit der Staatspräsidentin darüber gesprochen?
Aus der Regierung wollte – was ich so in 26 Jahren auch noch nie erlebt habe – niemand unsere europäische Delegation empfangen, nicht mal ins Parlamentsgebäude wollte man uns lassen. Wir wurden faktisch ausgeladen. Die Staatspräsidentin, die bei der Regierung verhasst ist, hat mit uns gesprochen. Sie hat allerdings bei Gesetzen nur ein aufschiebendes Veto.
Ist eine Rücknahme des Gesetzes denkbar? Oder ist diese Hoffnung naiv?
Die EU hat das ja endlich – ein bisschen spät – sehr deutlich gefordert. Ich fürchte aber, die Regierung hat sich so eingemauert, dass ich derzeit keine Gesprächsbereitschaft sehe. Und wir sollten tunlichst nicht in die Falle tappen, über Modifizierungen des Gesetzes zu verhandeln. Damit würde man ja das Gesetz als solches im Prinzip anerkennen. Ich zitiere den Kanzler: „Solche Gesetze braucht es nicht.“ Das ist Putinismus in Reinform, um der Regierungspartei die Macht zu erhalten. Und findet seine Fortsetzung in insgesamt neun durchgepeitschten Gesetzen, die sexuelle Minderheiten diskriminieren, Medienvielfalt unterdrücken, die Justiz einschränken und die Opposition ausgrenzen.
Ist für Georgien die Tür zur EU nun zu? Noch einen Spalt offen?
Die Regierungspartei hat die Tür vorerst zugeschlagen. So kann es nicht zu Beitrittsverhandlungen kommen, der Kandidatenstatus ist derzeit nichts wert. Die Tür kann aber sofort wieder geöffnet werden, wenn die Regierung endlich ihrer Bevölkerung, ihren Kindern und Enkelkindern auf den Straßen und Plätzen zuhört.
Sehen Sie ein Worst-Case-Szenario eines weiteren russischen Einmarschs?
Russland ist ja schon 2008 einmarschiert, kontrolliert mit Abchasien und Südossetien 20 Prozent des georgischen Territoriums. Dazu eine Regierung mit klar autoritären Zügen – die Lage ist brandgefährlich.
Der Wille, zu Europa zu gehören, ist ungebrochen im Volk?
Ja, gerade unter jungen Leuten. Wenn man als manchmal etwas müde gewordener Europäer die Batterien aufladen möchte, dann sollte man nach Tiflis kommen. Dort schlägt derzeit das Herz Europas am lautesten.