„Da liegt eine potenzielle Bombe“

von Redaktion

Gesundheitsexperte Wasem: Gesellschaft muss entscheiden, wie viel ihr Pflege wert ist

München – Perspektivisch droht Deutschland eine Pflegenot. Professor Jürgen Wasem von der Uni Duisburg-Essen, der Vorsitzende des Expertenrats Pflegefinanzen, erklärt im Interview mit unserer Zeitung, was die Ursachen dafür sind. Er sagt: „Wenn die Ampel politisch einig wäre, würde sie das natürlich noch hinbekommen.“

Karl Lauterbach kann sich den starken Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen nicht erklären. Kommt das wirklich so überraschend?

Er gibt ja eine mögliche Erklärung, nämlich dass dies der Beginn des Sandwich-Effekts sein könnte: Die Baby-Boomer fangen an, pflegebedürftig zu werden – und gleichzeitig müssen sie ihre Eltern pflegen. Allerdings sind nur ein bis zwei Prozent der unter 70-Jährigen pflegebedürftig. Selbst bei den 70- bis 75-Jährigen sind es noch deutlich unter zehn Prozent. Die ersten Baby-Boomer werden jetzt 70. Mittelfristig wird diese Generation ein extremes Pflegebedürftigkeitsproblem bedeuten – aber im Moment noch nicht.

Was ist dann die Ursache des Anstiegs?

Der neue Pflegebedürftigkeits-Begriff seit der Pflegereform 2016, der auch Demenz-Patienten als leistungsberechtigt anerkennt. Seither registrieren wir jedes Jahr einen Anstieg, der höher als erwartet ausfällt. Bis zu dieser Reform musste man körperlich pflegebedürftig sein, Demenz als solches war nicht berücksichtigt. Es war schwer abschätzbar, wie groß dieser neue Kreis der Leistungsberechtigten sein würde. Ich glaube, dass sich erst jetzt langsam herumspricht, dass man auch mit mittlerer Demenz Leistungen beziehen kann.

Die Baby-Boomer müssen bis 67 arbeiten. Leidet darunter die Pflege daheim durch die eigenen Kinder?

Natürlich liegt da eine potenzielle Bombe. Deswegen haben wir ja die Diskussionen um neue Wohnmodelle. Dazu kommt der Mangel an Pflegepersonal: Wir müssten künftig deutlich mehr Schulabgänger als bisher dazu bringen, in der Pflege zu arbeiten. Ob das gelingt, ist mehr als unsicher.

Lauterbach sagt auch, dass die Ampel in dieser Legislatur eine Pflegereform nicht mehr schaffen werde. Haben wir die Zeit, mit einer Reform bis zur nächsten Wahl zu warten?

Wenn die Ampel politisch einig wäre, würde sie das natürlich noch hinbekommen. Aber der Punkt ist, dass SPD und Grüne hier ganz andere Vorstellungen haben als die FDP. Rot-Grün will die Bürgerversicherung für alle bei der Pflege, was die FDP ablehnt. Hingegen lehnen die FDP-Pläne einer Kapitaldeckung der Pflege SPD und Grüne ab. Das ist sehr bedauerlich, denn da die Baby-Boomer noch nicht in großer Zahl pflegebedürftig werden, hätten wir jetzt noch Zeit.

Was könnte getan werden, um die erwartbar stark steigenden Kosten zu stemmen: Noch schlechtere Leistungen? Die Kinder der Pflegebedürftigen stärker zur Kasse bitten?

Da beschreiben Sie das Dilemma: Wenn wir die Pflege-Leistungen halten wollen, also an die Inflation anpassen wollen, muss das gegenfinanziert werden. Die 310 000 Pflegebedürftigen mehr kosten uns 2,9 Milliarden Euro, wenn sie ambulant gepflegt werden. Das sind 0,15 Beitragssatzpunkte drauf auf die jetzt 3,5 Prozent. Wenn wir die Leistungen nicht beschränken wollen, bleibt nur bei der Finanzierung zu schrauben: Privatpflegeversicherte reinnehmen? Verstärkt Steuermittel einsetzen? Stärker für die Zukunft ansparen? Für Wahlkämpfe ist das schwierig: Man kann populistisch sagen: Pflege-Skandal, die Politik macht nichts! Aber die Entscheidung, wie viel ist uns Pflege wert, muss die Gesellschaft treffen.

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