Dünne Personaldecke: Eine Mitarbeiterin der Johanniter misst den Blutdruck einer Klientin der ambulanten Pflege. © dpa
Berlin – Die Zahl der Pflegebedürftigen ist in Deutschland im vergangenen Jahr laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach deutlich stärker gestiegen als gedacht. „Demografisch bedingt wäre 2023 nur mit einem Zuwachs von rund 50 000 Personen zu rechnen gewesen. Doch tatsächlich beträgt das Plus über 360 000“, sagte der SPD-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Woran das liegt, verstehen wir noch nicht genau.“ In der Pflegeversicherung gebe es ein akutes Problem.
„In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflegebedürftigen geradezu explosionsartig gestiegen“, so Lauterbach. Er gehe von einem Sandwicheffekt aus. „Zu den sehr alten, pflegebedürftigen Menschen kommen die ersten Babyboomer, die nun ebenfalls pflegebedürftig werden. Es gibt also erstmals zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen sind: die Babyboomer und deren Eltern.“
Laut bisherigen Prognosen aus der Wissenschaft erhöht sich die Zahl der Pflegebedürftigen binnen 15 Jahren von heute rund fünf auf sechs Millionen. Regional dürfte der Anstieg sehr unterschiedlich ausfallen, besonders stark aufgrund der Demografie in Bayern und Baden-Württemberg. Zwischen 280 000 und 690 000 Pflegekräfte werden laut Statistischem Bundesamt bis 2049 bundesweit fehlen.
Das Leistungsniveau der Pflegeversicherung kann nach Einschätzung von Lauterbach mit dem jetzigen Beitragssystem allein nicht erhalten werden. Die Koalition hatte zum vergangenen Juli eine Beitragserhöhung für Kinderlose auf 4 Prozent und für Beitragszahler mit einem Kind auf 3,4 Prozent beschlossen. Die Betriebskrankenkassen schlugen Anfang Mai mit Hochrechnungen Alarm, nach denen für dieses Jahr ein Defizit der Pflegeversicherung von einer Milliarde Euro und für 2025 von 4,4 Milliarden droht.
Die Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, Maria Loheide, hatte zuletzt gemahnt: „Wenn das Geld der Pflegeversicherung nicht mehr ausreicht, ist die Versorgung der pflegebedürftigen Menschen gefährdet.“ Dennoch ist keine rasche Abhilfe in Sicht. Eine umfassende Finanzreform in der Pflege werde in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nicht mehr zu schaffen sein, sagte Lauterbach. Es bestehe eine interministerielle Arbeitsgruppe, sie werde aber „wohl kaum zu einer einheitlichen Empfehlung“ kommen. „Dafür sind die Ansichten der verschiedenen Ministerien beziehungsweise der Koalitionspartner zu unterschiedlich.“ Lösungsmöglichkeiten würden durch die AG neutral nebeneinandergestellt – dies sei eine gute Grundlage für eine große Reform in der nächsten Wahlperiode. „Dann muss sie aber auch kommen“, sagte Lauterbach.
Die Union im Bundestag kritisierte dies als Bankrotterklärung. Bayerns CSU-Fraktionschef und Ex-Gesundheitsminister Klaus Holetschek sagte: „Die geplante große Pflegeform in der nächsten Wahlperiode kommt viel zu spät.“ Holetschek forderte eine Lohnersatzleistung wie beim Elterngeld für pflegende Angehörige.
Die Angehörigen gelten als „Deutschlands größter Pflegedienst“. Doch viele Familien seien seelisch, körperlich und finanziell am Ende, mahnt die Deutsche Stiftung Patientenschutz. Gleichzeitig wird die Pflege im Heim immer teurer. Zum 1. Januar waren im ersten Jahr im bundesweiten Schnitt 2576 Euro pro Monat aus eigener Tasche fällig – 165 Euro mehr als 2023.
Laut einer Befragung des Evangelischen Verbands für Altenarbeit und Pflege vom Februar müssen zudem vier von fünf Pflegeeinrichtungen ihr Angebot einschränken, weil Personal fehlt. Neun von zehn ambulanten Diensten lehnten 2023 Neukunden ab. Die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg führt Pflegekräfte an der bundesweit ersten Position unter allen Berufsgruppen mit einem Engpass.